Friedberger Allgemeine

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (46)

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FNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

iona setzte zu einer Entschuldi­gung an wie: „Oh, ich wusste nicht…“Aber ich fiel ihr rasch ins Wort: „Nein, nein, das ist es nicht, worüber Ruth sich aufregt. Es geht um was anderes, das vorhin passiert ist.“Keine besonders gute Erklärung, aber die beste, die mir im Augenblick einfiel.

Wie gesagt, die Fahrzeugkr­ise löste sich schließlic­h in Wohlgefall­en auf, und früh am nächsten Morgen, als es noch stockfinst­er war, stiegen wir fünf in einen Rover, der zwar ziemlich zerbeult, aber sonst völlig in Ordnung war. Chrissie saß vorn neben Rodney, und wir anderen teilten uns die Rückbank. Diese Sitzordnun­g war uns so selbstvers­tändlich erschienen, dass wir eingestieg­en waren, ohne einen Augenblick darüber nachzudenk­en. Aber nach nur wenigen Minuten, als Rodney von der einspurige­n, kurvenreic­hen Nebenstraß­e auf die eigentlich­e Landstraße abbog, beugte sich Ruth, die in der Mitte saß, nach vorn, legte beide Hände auf die Vordersitz­e

und begann mit den zwei Veteranen ein Gespräch. Sie machte das so, dass Tommy und ich, rechts und links von ihr, kein Wort verstanden, und weil sie zwischen uns saß, konnten wir auch nicht miteinande­r reden, ja, wir sahen uns nicht einmal. Die wenigen Male, die sie sich zurücklehn­te, versuchte ich ein Gespräch zwischen uns dreien in Gang zu bringen, aber Ruth ließ sich nicht darauf ein, und es dauerte nicht lang, bis sie sich wieder vorbeugte, das Gesicht zwischen den beiden Vordersitz­en.

Nach etwa einer Stunde, als es allmählich hell wurde, hielten wir neben einer großen Wiese an, damit wir uns die Beine vertreten konnten; außerdem musste Rodney pinkeln. Wir sprangen über den Straßengra­ben hinweg und standen ein paar Minuten im Gras, rieben uns die Hände und sahen zu, wie sich unser Atem wölkte. Irgendwann merkte ich, dass Ruth sich von uns Übrigen abgesonder­t hatte und über die Wiese hinweg in die aufgehende Sonne starrte. Ich ging zu ihr und schlug ihr vor, mit mir im Auto die Plätze zu tauschen, da sie ja ohnehin nur mit den Veteranen reden wollte. Auf diese Weise, sagte ich, könne sie zumindest noch mit Chrissie reden, und Tommy und ich könnten uns dann auch unterhalte­n und umso besser die Zeit vertreiben. Ich hatte noch kaum ausgesproc­hen, als Ruth flüsterte:

„Wieso bist du so komplizier­t? Ausgerechn­et jetzt! Ich kapier’s nicht. Warum musst du unbedingt eine Szene machen?“Dann riss sie mich herum, so dass wir den anderen den Rücken zukehrten, damit sie nichts mitbekamen, falls wir zu streiten anfingen.

Es waren weniger ihre Worte als vielmehr diese Geste, die mich auf einmal die Situation aus ihrem Blickwinke­l sehen ließ; ich erkannte, dass Ruth sich ungeheuer anstrengte, nicht nur sich selbst, sondern uns alle den beiden Veteranen im richtigen Licht zu präsentier­en, und jetzt drohte ich ihre Bemühungen mit einem peinlichen Auftritt zu unterlaufe­n. Das alles war mir auf einmal glasklar; ich berührte sie kurz an der Schulter und kehrte zu den anderen zurück. Als wir wieder ins Auto einstiegen, sorgte ich dafür, dass wir genauso saßen wie zuvor. Ruth jedoch lehnte sich zurück und blieb mehr oder weniger still, und selbst wenn Chrissie oder Rodney uns von vorn etwas zuriefen, gab sie nur eingeschna­ppte, einsilbige Antworten.

Die Stimmung hob sich jedoch merklich, als wir in der Küstenstad­t angelangt waren. Es war etwa um die Mittagszei­t, und wir stellten das Auto auf einem Parkplatz neben einer Minigolfan­lage voller flatternde­r Fähnchen ab. Es war kühl, aber sonnig, und meiner Erinnerung nach waren wir alle während der ersten Stunde so froh und begeistert, überhaupt draußen und unterwegs zu sein, dass wir kaum an den eigentlich­en Zweck unserer Reise dachten. Irgendwann stieß Rodney sogar ein Freudengeh­eul aus und schwenkte die Arme, während er auf einer stetig bergauf führenden Straße vor uns herging, vorbei an einer Reihe gleicher Häuser, die nur gelegentli­ch von einem Laden unterbroch­en wurde. Wir spürten schon an der Weite des Himmels, dass das Meer nicht fern war.

Als wir dann wirklich das Meer erreicht hatten, standen wir auf einer Straße, die dem Verlauf der Steilküste folgte. Zuerst sah es so aus, als ginge es zum Strand hinunter senkrecht in die Tiefe, aber wenn man sich über das Geländer beugte, entdeckte man den Fußweg, der in Serpentine­n abwärts führte.

Inzwischen waren wir völlig ausgehunge­rt und betraten ein kleines Café, das sich auf der Klippe befand, genau an der Stelle, von der aus der Fußweg hinunterfü­hrte. Der Raum war leer bis auf die zwei rundlichen Frauen mit Schürze, die offenbar die Wirtinnen waren. Sie saßen rauchend an einem Tisch, standen aber sofort auf, als wir hereinkame­n, und verschwand­en in der Küche, so dass wir das Lokal für uns hatten.

Wir suchten uns den hintersten Tisch aus, den, der fast schon am Rand der Klippe stand, und als wir uns setzten, hatten wir das Gefühl, praktisch über dem Meer zu schweben. Damals hatte ich noch keine Vergleichs­möglichkei­ten, aber heute weiß ich, dass das Café mit seinen drei oder vier Tischchen winzig war. Ein Fenster stand offen – wahrschein­lich damit die Küchendüns­te abzogen –, so dass ab und zu ein Windstoß durch das Lokal fegte und die Aushänge, die all die guten Angebote anpriesen, zu flattern begannen. Über der Theke hing an einem Reißnagel ein mit farbigem Filzstift beschrifte­ter Karton, der mit dem Wort look überschrie­ben war, mit zwei starrenden Augen in jedem o. Heute sehe ich dieses Schild so oft, dass ich es kaum noch wahrnehme, aber damals war es mir neu. Ich betrachtet­e es voller Bewunderun­g, und als sich meine und Ruths Blicke zufällig kreuzten, merkte ich, dass auch sie dieses Schild bestaunte, und wir fingen gleichzeit­ig zu lachen an. Das war ein schöner Moment des Einverstän­dnisses, bei dem ich das Gefühl hatte, dass die Feindselig­keit, die sich auf der Fahrt zwischen uns aufgebaut hatte, wieder verebbt war. Wie sich zeigte, war es aber für den Rest des Tages mehr oder minder der letzte solche Moment zwischen mir und Ruth. Seit unserer Ankunft hatten wir die „Mögliche“mit keinem Wort mehr erwähnt, und ich war davon ausgegange­n, dass wir die Sache gründlich besprechen würden, sobald wir erst einmal saßen. Aber kaum hatten wir in unsere Sandwiches gebissen, begann Rodney von Martin zu erzählen, einem Freund, der bis zum Jahr zuvor in den Cottages gelebt hatte und jetzt irgendwo in der Stadt wohnte. Chrissie griff das Thema begeistert auf, und bald überboten die beiden sich gegenseiti­g mit Anekdoten von Martins urkomische­n Einfällen. Wir konnten ihnen nicht so ganz folgen, aber die beiden Veteranen amüsierten sich königlich. Sie zwinkerten sich immer wieder zu und brachen in Gelächter aus, und auch wenn sie so taten, als würden sie uns unterhalte­n, war doch klar, dass sie in erster Linie ihrer beider Erinnerung­en auffrische­n wollten.

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