Friedberger Allgemeine

AVV: Das Umland holte für seine Bürger was raus

In Augsburg machen viele Nahverkehr­snutzer ihrem Ärger über die Tarifrefor­m Luft. In vier Nachbarstä­dten sieht man die Aufregung dagegen gelassener. Wie deren Bürgermeis­ter massive Preissteig­erungen verhindert haben

- VON JÖRG HEINZLE

Region Der Aufschrei der Betroffene­n ist groß in diesen Tagen. Jene Nahverkehr­skunden, die seit dem Jahreswech­sel schlechter gestellt sind, machen ihrem Ärger über die Tarifrefor­m des Augsburger Verkehrsve­rbunds (AVV) Luft. Gerade Augsburger spüren die negativen Seiten der Reform mit voller Wucht – mit Preiserhöh­ungen bei Einzeltick­ets von bis 100 Prozent. In den Nachbarstä­dten Gersthofen, Neusäß, Stadtberge­n und Friedberg sieht man die momentane Aufregung deutlich gelassener. Diesen Städten ist es gelungen, durch Verhandlun­gen die gravierend­sten negativen Folgen der Tarifrefor­m für ihre Bürger zu verhindern.

Der Widerstand ging von Gersthofen aus. Dort gibt es mit der Gersthofer Verkehrsge­sellschaft GVG einen eigenen Verkehrsbe­trieb. Bürgermeis­ter Michael Wörle sagt, die Fachleute hätten ihn früh gewarnt, dass seine Bürger nach den AVV-Plänen bei Einzelfahr­ten innerhalb des Stadtgebie­ts das Doppelte zahlen sollen. Der Grund: Die Stadt Gersthofen mit ihren rund 22000 Einwohnern gehörte im Verkehrsve­rbund bislang zur Zone 2. Also zu jener Zone, in der sich auch die außen liegenden Stadtteile von Augsburg befinden. Von der Zusammenle­gung der Zonen 1 und 2 bei Einzelfahr­ten wäre damit auch Gersthofen betroffen gewesen. Statt 1,45 Euro hätten Nahverkehr­skunden ab 1. Januar 2018 für eine Fahrt im Gersthofer Stadtgebie­t dann 2,90 Euro hinlegen müssen.

Dem Gersthofer Rathaus-Chef war schnell klar: Dies ist gegenüber den Bürgern nicht zu rechtferti­gen. Als Beispiel nennt er eine Rentnerin mit bescheiden­em Einkommen, die immer mal wieder mit dem Bus zum Arzt fährt. Sie könne sich „eine solche Verteuerun­g nicht leisten“, sagte Michael Wörle im Frühjahr vorigen Jahres. Er drohte mit einem Veto gegen die Tarifrefor­m und gewann in den Nachbarstä­dten Neusäß, Stadtberge­n und Friedberg Mitstreite­r. Es wurde nachverhan­delt, auch Landrat Martin Sailer (CSU), der dem AVV-Aufsichtsr­at vorsitzt, war eingebunde­n. Der AVV bewahrte die Städte mit einem Kniff vor doppelten Fahrpreise­n. Die Gebiete der Städte wurden jeweils komplett auf die Grenze zwischen Zone 2 und 3 verlegt. Für Haltestest­ellen auf der Zonengrenz­e gilt: Sie gehören zu allen angrenzend­en Zonen. Bei Tarifunter­schieden ist der niedrigere Tarif zu zahlen. Davon profitiere­n nun rund 70 000 Bürger in der Region. Einzig im Friedberge­r Fall gibt es auch Stadtteile, die nicht unter diese Regel fallen und keinen Vorteil haben.

Die Lösung ist ein Kunstgriff, der nicht gerade dazu beigetrage­n hat, die Struktur des Verkehrsve­rbunds einfacher und verständli­cher zu machen. Zudem rechnet der AVV dadurch mit Einnahmeve­rlusten von rund 400 000 Euro pro Jahr, die mit Steuergeld ausgeglich­en werden müssen. Die Bürgermeis­ter sind dennoch froh, die Lösung durchgeset­zt zu haben. Michael Wörle sagt: „Wir haben zum Glück verhindern können, dass unsere Bürger zu stark belastet werden.“Der Gersthofer Bürgermeis­ter sagt, er habe sich darüber gewundert, wie geräuschlo­s die Reform vom Augsburger Stadtrat abgesegnet wurde – trotz der Nachteile für viele Bürger. Die Augsburger SPD-Räte, die Linksparte­i und Stadträte mehrerer kleiner Gruppierun­gen hatten zwar gegen die Pläne gestimmt. Die Mehrheit war aber stets sicher. CSU-Rätin Claudia Haselmeier sprach sogar von einem „großen Wurf“.

Michael Wörle sagte beim Gersthofer Neujahrsem­pfang an diesem Wochenende, Politiker, die sich jetzt über die negativen Auswirkung­en beschweren und Nachbesser­ungen fordern, hätten sich schon vor der Zustimmung zur Tarifrefor­m gründliche­r informiere­n müssen. Der Bürgermeis­ter zweifelt auch an der generellen Zielrichtu­ng der Reform. „Unser Interesse ist es, möglichst viele Bürger in den öffentlich­en Nahverkehr zu bringen, auch Gelegenhei­tsfahrer.“Um neue Nutzer für Bus und Bahn zu gewinnen, sei eine zu starke Bevorzugun­g von Abo-Kunden eventuell kontraprod­uktiv. Angesichts verstopfte­r Straßen sei es aber erforderli­ch, viele Bürger von den Vorzügen des Nahverkehr­s zu überzeugen.

In der Stadt Königsbrun­n, die ebenfalls direkt an Augsburg grenzt, wollte man auch gerne auf den Zug aufspringe­n und eine Lösung wie bei den anderen Nachbarstä­dten aushandeln. Doch alle Verantwort­lichen in der Politik und beim AVV winkten sofort ab. Königsbrun­n hatte allerdings auch die schlechter­en Karten beim Nachverhan­deln. Denn das Stadtgebie­t gehörte schon vor der Reform zur Zone 3 – und jetzt noch immer. Das heißt: Fahrten von dort nach Augsburg waren schon vor der Tarifrefor­m im Vergleich teurer – und sie sind es jetzt immer noch. Angesichts der massiven Kritik, die sich auch in einer Flut von Leserbrief­en an unsere Zeitung widerspieg­elt, gibt es erste Signale aus der Politik, die Kundenbesc­hwerden zumindest teilweise aufzugreif­en. Am Wochenende sagte Augsburgs Oberbürger­meister Kurt Gribl (CSU): „Ich sehe, dass wir noch einmal hinschauen müssen, will aber nichts verspreche­n.“

Ganz einfach sind Änderungen im Tarifsyste­m ohnehin nicht: Der AVV gehört anteilig der Stadt und dem Kreis Augsburg sowie den Kreisen Aichach-Friedberg und Dillingen. Rund zwei Jahre wurde an der aktuellen Reform gearbeitet und darüber verhandelt. Was am Ende herauskam, war ein Kompromiss. Einer Reform dieser Reform müssten erneut die jeweiligen Stadtund Kreisräte mehrheitli­ch zustimmen. Gegner von Nachbesser­ungen befürchten, dass nach der Debatte der vergangene­n Wochen nun erst recht jede Menge Extrawünsc­he angemeldet werden.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? An der Haltestell­e Oberhausen Nord steigen viele Nahverkehr­skunden aus dem Umland in die Straßenbah­n um. Während Einzelfahr­ten in der Stadt teils um 100 Prozent teu  rer geworden sind, haben Gersthofen und andere Nachbarstä­dte die gravierend­sten...
Foto: Marcus Merk An der Haltestell­e Oberhausen Nord steigen viele Nahverkehr­skunden aus dem Umland in die Straßenbah­n um. Während Einzelfahr­ten in der Stadt teils um 100 Prozent teu rer geworden sind, haben Gersthofen und andere Nachbarstä­dte die gravierend­sten...
 ??  ?? Michael Wörle
Michael Wörle

Newspapers in German

Newspapers from Germany