Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (72)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Dann könntest du jetzt ein Plakat wie dieses ansehen und dir sagen, dass genau das einmal dein sehnlichster Wunsch war und dass du’s zumindest versucht hast…“
„Wie denn!“Ruths Tonfall war zum ersten Mal schärfer geworden, aber gleich darauf seufzte sie und senkte wieder den Kopf. Dann sagte Tommy:
„Du hast immer so geredet, als könntest du für eine Sonderregelung infrage kommen. Und meiner Ansicht nach hättest du’s sogar schaffen können. Wenigstens hättest du fragen müssen.“
„Okay“, sagte Ruth. „Ihr behauptet, ich hätte es versuchen sollen. Aber wie? An wen hätte ich mich wenden sollen? Es war doch unmöglich, sich zu erkundigen.“
„Trotzdem hat Tommy Recht“, entgegnete ich. „Wenn du an mögliche Sonderregelungen für dich geglaubt hast, hättest du auf jeden Fall fragen müssen. Du hättest zu Madame gehen müssen.“
Kaum dass ich zu Ende gesprochen
und Madame erwähnt hatte, wurde mir klar, dass ich einen Fehler begangen hatte. Ruth musterte mich, und ich sah etwas wie Triumph über ihr Gesicht huschen. In Filmen kann man dergleichen manchmal auch beobachten – wenn der eine den anderen mit gezückter Pistole zu allem Möglichen zwingt. Aber dann leistet sich der Bewaffnete einen Fehler, es kommt zu einem Handgemenge, und auf einmal befindet sich die Pistole in der Hand des zuvor Bedrohten. Und der sieht seinen Widersacher nun mit einem Funkeln in den Augen an, mit einem Ich-kann-mein-Glück-gar-nichtfassen-Ausdruck, der Rache verheißt. Ungefähr so war der Blick, mit dem Ruth mich maß. Zwar hatte ich nicht von Aufschub und Zurückstellungen geredet, aber ich hatte Madame erwähnt, und damit hatten wir ein ganz neues Terrain betreten.
Ruth bemerkte meine Panik und drehte sich ganz zu mir herum. Ich wappnete mich für ihren Angriff; beschwichtigte mich innerlich und sagte mir, egal, was sie jetzt vorbrachte, es war manches anders geworden, und sie würde nicht mehr so leicht ihren Kopf durchsetzen wie früher. Das waren meine Gedanken, und so war ich ganz und gar nicht auf das vorbereitet, was sie nun wirklich sagte:
„Kathy, ich erwarte nicht, dass du mir je verzeihst. Ich wüsste auch gar nicht, warum. Aber ich möchte dich trotzdem darum bitten.“
Ich war so überrumpelt, dass mir nichts einfiel als die ziemlich lahme Frage: „Was soll ich dir verzeihen?“
„Was du mir verzeihen sollst? Als Erstes zum Beispiel, dass ich dich immer angelogen habe, was diese speziellen Bedürfnisse von dir betrifft. Als du mir damals erzählt hast, wie es dich manchmal so umtreibt, dass du es praktisch mit jedem tun könntest.“
Wieder wechselte Tommy hinter uns die Position, aber Ruth beugte sich zu mir und sah mich so eindringlich an, als wäre Tommy gar nicht mehr bei uns im Auto.
„Ich weiß, dass es dich beunruhigt hat“, sagte sie. „Ich hätte dir gegenüber offen sein sollen. Ich hätte dir verraten sollen, dass es bei mir genauso war, genau so, wie du’s beschrieben hast. Heute ist dir das alles natürlich klar, ich weiß. Aber damals nicht, und ich hätte dir helfen müssen. Ich hätte dir besser erklärt, dass auch ich manchmal nicht widerstehen konnte, es mit anderen zu tun, obwohl ich damals mit Tommy zusammen war. Es waren mindestens drei, als wir in den Cottages waren.“
Sie schien Tommys Anwesenheit immer noch vollständig verdrängt zu haben. Es war weniger ein absichtliches Ignorieren, vielmehr war sie so ausschließlich darauf konzentriert, zu mir durchzudringen, dass darüber alles andere in den Hintergrund getreten war.
„Ein paar Mal hätte ich’s dir beinahe gesagt“, fuhr sie fort. „Dann hab ich’s doch gelassen. Aber schon damals war mir klar, dass du eines Tages zurückblicken würdest, und dann würde dir alles klar, und du wärst mir böse. Trotzdem hab ich nichts gesagt. Es gibt keinen Grund, weshalb du mir das je verzeihen solltest, aber ich möchte dich jetzt darum bitten, weil…“Sie verstummte jäh.
„Weil was?“, fragte ich.
Sie lachte und sagte: „Nichts. Ich wäre froh, wenn du mir verzeihen könntest, aber ich rechne nicht damit. Jedenfalls ist das noch nicht mal die Hälfte, eigentlich nicht mal ein Bruchteil davon. Die Hauptsache ist, dass ich dich und Tommy voneinander fern gehalten habe.“Sie war wieder sehr leise geworden. „Das war das Schlimmste, was ich getan habe.“
Sie drehte sich ein Stück nach hinten und sah zum ersten Mal auch Tommy an. Fast unmittelbar darauf wandte sie sich wieder an mich, aber ihre Worte waren nun an uns beide gerichtet.
„Das war das Schlimmste, was ich getan habe“, wiederholte sie. „Dafür kann ich euch nicht mal um Verzeihung bitten. Mein Gott, ich hab mir das innerlich so oft vorgesagt, ich kann nicht glauben, dass ich es wirklich laut ausspreche. Ihr beide hättet zusammengehört. Ich behaupte nicht, dass mir das nicht immer klar gewesen wäre. Natürlich war es mir klar, schon immer, so weit ich mich zurückerinnern kann. Aber ich habe euch voneinander fern gehalten. Nein, ich bitte euch nicht, mir das zu verzeihen. Darum geht es jetzt gar nicht. Sondern ich will etwas anderes, nämlich das alles wieder gutmachen. Ich möchte wieder gutmachen, was ich euch versaut habe.“
„Was meinst du, Ruth?“, fragte Tommy. „Wie soll das gehen, das Wiedergutmachen?“Seine Stimme war sanft, voller kindlicher Neugier, und ich glaube, das war es, was mich in Tränen ausbrechen ließ.
„Kathy, hör zu“, sagte Ruth. „Du und Tommy, ihr müsst versuchen, einen Aufschub zu erhalten. Wenn ihr beide zusammen hingeht, habt ihr eine Chance. Eine echte Chance.“
Sie legte mir eine Hand auf die Schulter, aber ich entzog mich ihr heftig und starrte sie durch die Tränen wild an.
„Dafür ist es zu spät. Viel zu spät.“
„Es ist nicht zu spät. Kathy, hör mir zu, es ist nicht zu spät. Gut, Tommy hat schon zwei Spenden hinter sich. Aber wer sagt, dass das eine Rolle spielt?“
„Es ist zu spät für das alles.“Ich fing wieder zu schluchzen an. „Überhaupt darüber nachzudenken ist idiotisch. So idiotisch wie der Traum, in so einem Büro zu arbeiten. Das liegt alles weit hinter uns.“
Ruth schüttelte den Kopf. „Es ist nicht zu spät. Tommy, sag du’s ihr.“
Ich saß über das Steuer gebeugt und konnte daher Tommy gar nicht sehen. Er gab einen verblüfften Laut von sich, eine Art Brummen, sagte aber nichts.
„Schau“, sagte Ruth, „hör zu, hört mir beide zu. Ich wollte, dass wir zu dritt diesen Ausflug machen, weil ich euch das alles sagen wollte. Aber auch, weil ich euch was geben wollte.“Sie hatte in ihren Anoraktaschen gekramt und hielt jetzt ein zerknittertes Blatt in der Hand. „Tommy, nimm du es lieber. »73. Fortsetzung folgt