„Friss oder stirb“
Eine alleinerziehende Mutter beschreibt vor Gericht, warum sie sich auf einen schlecht bezahlten Job als Paketzustellerin eingelassen hat. In Augsburg wird gegen einen Ex-Subunternehmer verhandelt, der die Sozialkassen geprellt haben soll
Region Mit dem Boom im OnlineHandel ist die Anzahl der Päckchen und Pakete rasant angestiegen. Handys, Kleidung, Laptops, Wein, Büroartikel, Bücher – es gibt nichts, was nicht preiswert und fast wie von selbst nach Hause kommt. Geliefert von Männer und Frauen, die für die wachsende Zahl an Kurier-, Expressund Paketdienste arbeiten. Doch viele der Paketzusteller sind hoffnungslos überlastet, besonders vor Weihnachten. Es ist zudem ein miserabel bezahlter Knochenjob, wie ein gestern in Augsburg begonnener Prozess vor einem Schöffengericht aufzeigt.
Auf der Anklagebank sitzt der frühere Geschäftsführer und Miteigentümer zweier Firmen aus dem südlichen Landkreis Augsburg. Der Unternehmer hat jahrelang im Auftrag Briefe, Pakete und Autoersatzteile in Schwaben und ins nahe Oberbayern ausgeliefert. Mit Fahrern, die er als Selbstständige führte. Doch waren sie das wirklich?
Die Staatsanwaltschaft ist anderer Ansicht. Sie hält die Fahrer, von denen gestern die ersten als Zeugen vor Gericht gehört wurden, für abhängig Beschäftigte. Dem 50-Jährigen wird deshalb vorgeworfen, für 21 Zusteller keine Beiträge in die Sozialkassen gezahlt zu haben. Laut Anklagebehörde wurden in den Jahren 2008 bis 2013 sechs Krankenkassen, allen voran die AOK Bayern, um insgesamt 239 883 Euro geschädigt.
Der Angeklagte, verteidigt vom Münchner Strafrechtler Prof. Ulrich Ziegert, schweigt zu den Vorwürfen. Wie aus seinem vom Anwalt verlesenen Lebenslauf hervorgeht, hatte er mehrere Berufe ausgeübt, bevor er Anfang der 1990er-Jahre begann, für Hermes und andere Firmen Pakete, Briefe, Zeitungen und Autoersatzteile auszuliefern. Ab 2004 betrieb er in einem Holzstadel ein Lager, wo der Logistiker Pakete anlieferte, die in der Region verteilt werden sollten.
Wie hart manche Menschen für ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen, beschrieb aus eigenem Erleben eine Zeugin. 2007 hatte die heute 44-Jährige, eine gelernte Bürokauffrau und alleinerziehende Mutter, sich arbeitslos gemeldet. Ein Bekannter vermittelte sie an den Angeklagten. Dieser setzte sie in Starnberg ein, wo für ein Auslieferungslager ein Fahrer gesucht wurde. Die Zeugin, die mit ihrem Sohn in Augsburg lebt, musste um sechs Uhr morgens in Starnberg sein, um erste Pakete einladen zu können. Was nicht zugestellt werden konnte, kam abends ins Depot zurück. Ein Logo auf ihrer Kleidung, wie ein Schild am Auto – ihrem eigenen – wies sie als Hermes-Mitarbeiterin aus. Beides sei „Pflicht“gewesen.
Die Zeugin erinnerte sich genau, was ihr einmal eine Frau sagte, bei der sie um 22 Uhr ein Paket abgeliefert hatte: „Sie tun mir leid.“Und ihr Verdienst? Die Augsburgerin hat jeden Monat dem Angeklagten eine Rechnung ausgestellt, anhand der mit einem Scanner festgehalten Auslieferungen. Für ein großes Paket bekam sie einen Euro, für kleinere Päckchen entsprechend weniger. Zuzüglich Mehrwertsteuer. Den Sprit musste sie aus eigener Tasche bezahlen. Als Richterin Birgit Geißenberger erstaunt wissen will, weshalb sie sich darauf eingelassen hat, erwidert ihr die Zeugin: „Friss oder stirb“, sie habe damals, da arbeitslos, keine andere Wahl gehabt.
Das expandierende Sub-Unternehmen des Angeklagten besaß später drei eigene Lastwagen. Einer ihrer Fahrer, zugleich ein Mitgesellschafter, fuhr morgens und abends die Postfilialen im Raum Augsburg an, um die Rollbehälter mit Briefen zu bringen oder abzuholen.
Der Angeklagte, der für die genannten Firmen tätig gewesen ist, hat persönlich und mit seinem Betrieb inzwischen Insolvenz angemeldet. Der 50-Jährige wirkte im Gerichtssaal gesundheitlich angegriffen. Nach einem längeren Aufenthalt ist er vor Kurzem aus dem Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren entlassen worden. – Der Prozess ist bis 28. Februar angesetzt.