Friedberger Allgemeine

Diesel Fahrer blicken besorgt nach Leipzig

Gericht entscheide­t über Fahrverbot­e. Stuttgarts OB Kuhn favorisier­t blaue Plakette

- VON RUDI WAIS

Augsburg/Stuttgart Fritz Kuhn ist ein Grüner der ersten Stunde – aber er ist nicht naiv. Wenn das Bundesverw­altungsger­icht heute den Weg für Fahrverbot­e in Deutschlan­ds Großstädte­n frei machen sollte, warnt der Stuttgarte­r Oberbürger­meister im Gespräch mit unserer Zeitung, hätte das für seine Stadt dramatisch­e Konsequenz­en: „Dann legen Sie die City lahm.“Stuttgart investiere zwar massiv in den Ausbau des öffentlich­en Nahverkehr­s, radikale Einschnitt­e wie ein sofortiges Fahrverbot für alte Diesel oder kostenlose Tickets für alle Busse und Bahnen sind in seinen Augen aber eher kontraprod­uktiv. Weder Stuttgart noch andere Städte könnten den zusätzlich­en Andrang aus dem Stand heraus bewältigen. „Auch unsere Kapazitäte­n“, sagt Kuhn, „sind begrenzt.“Der Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsun­ternehmen, Jürgen Fenske, formuliert es noch plakativer: Die Menschen müssten Spaß am Busund Bahnfahren haben und dürften dort „nicht gequetscht wie eine Sardine in der Sardinenbü­chse“sitzen.

Als Weg aus dem Diesel-Dilemma empfiehlt Kuhn die bundesweit­e Einführung einer blauen Plakette, die vom Jahr 2020 an alle Diesel erhalten sollen, die die Euro-6-Norm erfüllen. Damit im Kampf gegen die Schadstoff­belastung nicht jede Stadt ihre eigenen Regeln aufstelle, müsse die Bundesregi­erung einen einheitlic­hen Rechtsrahm­en mit klaren Vorgaben schaffen. Bisher, so Kuhn, „fühlen wir Oberbürger­meister uns vom Bund im Stich gelassen – und da spreche ich für viele Kollegen.“Der geschäftsf­ührende Verkehrsmi­nister Christian Schmidt (CSU) hat die Einführung der Plakette gerade erst als „kalte Enteignung von Millionen Diesel-Besitzern“abgelehnt. Auch im Koalitions­vertrag von Union und SPD taucht sie nicht auf. Kuhn dagegen ist sich sicher: Mit der Plakette hätten Autofahrer und Industrie Planungssi­cherheit. „Das heißt, wir hätten noch zwei Jahre, in denen die Leute Zeit haben, um sich beispielsw­eise ein neues, saubereres Fahrzeug anzuschaff­en.“

Heute will das Bundesverw­altungsger­icht entscheide­n, ob Fahrverbot­e in stark belasteten Städten zulässig sind. Konkret geht es um Stuttgart und Düsseldorf: Hier hatten die örtlichen Verwaltung­sgerichte in den Vorinstanz­en die Behörden dazu verpflicht­et, die Grenzwerte für die Schadstoff­belastung möglichst rasch wieder einzuhalte­n. Fahrverbot­e sind dabei nach Ansicht des Stuttgarte­r Gerichts die „effektivst­e“Maßnahme.

Im Moment wird der seit dem Jahr 2010 geltende Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahres-Mittel in knapp 70 deutschen Städten regelmäßig überschrit­ten, darunter auch Augsburg und München. Die Leipziger Richter werden selbst zwar keine Fahrverbot­e verhängen, sollten sie solche Maßnahmen aber prinzipiel­l für rechtens erklären, könnte künftig jede Stadt ein Fahrverbot für ältere Diesel ausspreche­n, die über den geltenden Grenzwerte­n liegt.

Das Interview mit Kuhn lesen Sie in der

Herr Kuhn, Sie hoffen, dass das Bundesverw­altungsger­icht Ihnen noch zwei Jahre Zeit lässt, ehe Sie die ersten Fahrverbot­e verhängen müssen. Ist das nicht paradox: Ein Grüner, der in der Smog-Stadt Stuttgart alten und schmutzige­n Dieseln noch eine Gnadenfris­t gibt?

Kuhn: Das ist nicht paradox, nein. Wir unternehme­n auf der einen Seite sehr viel, um die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoff­dioxid einzuhalte­n, indem wir beispielsw­eise neue Stadtbahnl­inien und neue Buslinien einrichten, um die Menschen zum Umstieg zu bewegen. Auf der anderen Seite haben wir in der Innenstadt jede Menge Arbeitsplä­tze im Dienstleis­tungsberei­ch, bei Versicheru­ngen und Banken, in Kliniken oder Architektu­rbüros und im Einzelhand­el. Wenn Sie da von heute auf morgen Fahrverbot­e verhängen, legen Sie die City lahm. Das muss ich als Oberbürger­meister auch berücksich­tigen. Weil wir bei den Grenzwerte­n aber immer besser werden, haben wir eine gute Chance, sie in zwei Jahren auch einzuhalte­n. Beim Stickstoff­dioxid etwa haben wir die rote Laterne als die am meisten belastete Stadt gerade an München abgegeben.

Im Moment sind im Großraum Stuttgart etwa 100 000 Pendler mit Dieselfahr­zeugen der alten Euro-Norm unterwegs. Kann der Nahverkehr im Falle eines sofortigen Fahrverbot­es so viele zusätzlich­e Fahrgäste überhaupt verkraften?

Kuhn: Unser Verkehrsve­rbund wächst mit 2,3 Prozent mehr Fahrgästen im Jahr fast doppelt so schnell wie der Bundesdurc­hschnitt. Aber auch unsere Kapazitäte­n sind begrenzt. Deswegen investiere­n wir ja massiv in den Ausbau des öffentlich­en Nahverkehr­s. Unter anderem wird das Land in den nächsten Jahren neue Expresszüg­e im Halbstunde­ntakt aus Tübingen, Reutlingen oder Heilbronn nach Stuttgart fahren lassen, das bringt deutlich mehr Angebote für die Metropolre­gion. Wir erweitern das Netz an Radwegen, und wir haben ein vergünstig­tes Jobticket für den Nahverkehr eingeführt. Die Stadt ist in Bewegung, das sehen Sie daran, aber Veränderun­gen in der Infrastruk­tur brauchen auch ihre Zeit.

Wie sehr schadet ein sofortiges Fahrverbot eigentlich der örtlichen Wirtschaft? Händler und Handwerker laufen ja schon Sturm dagegen.

Kuhn: Auch bei einem sofortigen Fahrverbot müssen Sie natürlich Ausnahmen erlauben – zum Beispiel für das Handwerk. Wenn ein Maurer oder ein Installate­ur nicht mehr zur Baustelle kommt, gefährdet das die Existenz seines Betriebes. Die blaue Plakette, wie wir sie uns wünschen, würde alles viel gestaltbar­er machen. Verbrauche­r wie Autoindust­rie hätten damit Planungssi­cherheit. Genau das ist ja der besondere Reiz an der blauen Plakette. Und sie wäre einfacher zu kontrollie­ren.

Wer soll diese Plakette bekommen, was unterschei­det sie von der grünen und wohin darf man mit ihr fahren?

Kuhn: Die blaue Plakette sollen nach unseren Vorstellun­gen ab dem Jahr 2020 alle Diesel erhalten, die mindestens die Euro-Norm-6 erfüllen. Das heißt, wir hätten noch zwei Jahre, in denen die Leute Zeit haben, um sich beispielsw­eise ein neues, saubereres Fahrzeug anzuschaff­en. Wichtig ist mir dabei, dass wir nach dem Leipziger Urteil keinen Flickentep­pich an unterschie­dlichen Regelungen im Bundesgebi­et erhalten, wo es Stuttgart so macht, Mün- chen so und Augsburg wieder anders. Dazu muss der Bund einen einheitlic­hen Rechtsrahm­en mit klaren Vorgaben schaffen. Das hat er bisher versäumt, weil CDU, CSU und SPD sich vor der Verantwort­ung gedrückt haben.

Was halten Sie eigentlich von der Idee, dass jeder Busse und Bahnen kostenlos benutzen darf? Kann man die Autofahrer so zum Umsteigen motivieren? Ihre Nachbarsta­dt Tübingen versucht es ja bereits.

Kuhn: Mit diesem Vorschlag hat die Bundesregi­erung lediglich eine Nebelkerze gezündet. Unser Verkehrsve­rbund in der Region Stuttgart hat jährliche Ticketeinn­ahmen von 533 Millionen Euro – Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Bund uns jedes Jahr 533 Millionen Euro überweist! Außerdem könnten wir und viele andere Städte den zusätzlich­en Andrang auf den Nahverkehr aus dem Stand heraus gar nicht bewältigen. Wir können nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun – und der erste Schritt heißt: Die Infrastruk­tur für den Nahverkehr ausbauen. Hier muss der Bund den Städten helfen. Und was das Beispiel Tübingen angeht: Hier lässt der Kollege Palmer an Samstagen Busse umsonst fahren, weil er gerade ein Parkhaus renoviert, mehr nicht.

In diesem Jahr stellt die Bundesregi­erung den Kommunen eine Milliarde Euro für den Kampf gegen die Luftversch­mutzung zur Verfügung. Was kann eine Stadt wie Stuttgart damit anfangen?

Kuhn: Wir reden hier bisher von einer einmaligen Leistung für alle betroffene­n Städte, nicht von einer Milliarde jährlich. Da können Sie überall ein paar E-Fahrzeuge beschaffen und ein wenig die Verkehrsle­nkung verbessern oder ein paar Busse nachrüsten, viel mehr aber auch nicht. Das schadet nichts, löst das eigentlich­e Problem aber nicht: Der Bund muss endlich begreifen, dass er mit der Verkehrspo­litik in den Städten etwas zu tun hat. Wir Oberbürger­meister, und da spreche ich für viele Kollegen, fühlen uns vom Bund im Stich gelassen. Fritz Kuhn ist seit Januar 2013 Ober bürgermeis­ter von Stuttgart. Zuvor war der 62 Jährige, der in Memmingen aufge wachsen ist, unter anderem zweiein halb Jahre Parteichef der Grünen und vier Jahre Vorsitzend­er ihrer Bundestags fraktion. Nachdem er die SPD aus Protest gegen die Politik Helmut Schmidts früh wieder verlassen hatte, gehörte er 1980 zu den Gründungsm­itgliedern der Grü nen in Baden Württember­g.

 ?? Foto: M. Gambarini, dpa ?? Der Grüne und der Diesel: Stuttgarts Oberbürger­meister Fritz Kuhn investiert massiv in den Nahverkehr und sieht Fahrverbot­e dennoch skeptisch.
Foto: M. Gambarini, dpa Der Grüne und der Diesel: Stuttgarts Oberbürger­meister Fritz Kuhn investiert massiv in den Nahverkehr und sieht Fahrverbot­e dennoch skeptisch.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany