Achterbahn für die Augen
Der letzte Altmeister der Op Art wird vom Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt gezeigt. Sehsinnesverwirrungen inbegriffen
Ingolstadt Da hat man nun endlich mal Farbe auf der Straße, und schon muss daneben ein Schild anordnen: „Achtung Kunst! Fußgänger haben keinen Vorrang!“. Die Rede ist von einer pink-grün-gelben Variante unseres guten alten Zebrastreifens, die jetzt in Ingolstadt über die Tränktorstraße führt. Sozusagen als Prolog zu einer Ausstellung, die eine gewisse Standfestigkeit voraussetzt.
Denn im Museum für Konkrete Kunst (MKK) kommt man derzeit leicht ins Taumeln. Carlos CruzDiez, der mit 94 Jahren letzte lebende Altmeister der Op Art, treibt hier seine Farbexperimente. Spätestens nach dem vierten, fünften Streifenwerk rotiert der Sehnerv. Das funktioniert aber nur, wenn man sich bewegt. Nicht ohne Grund lautet der Titel dieser Schau „Color in Motion“– „Farbe in Bewegung“. Ändert man die Perspektive auch nur um den Bruchteil eines Millimeters, kann sich schon ein ganz anders Bild auftun.
Und dann gibt es noch diese kuriosen Trugbilder, weil unser Gehirn beim Aufeinandertreffen von zwei Farben noch eine dritte hinzuaddiert. Zwischen Blau und Weiß wuselt plötzlich ein gelber Fleck, der einfach nicht mehr verschwinden will. Genauso gerne basteln sich unsere grauen Zellen den Komplementärton dazu, wenn das Auge eine bestimmte Farbe fixiert. Besonders raffiniert jedoch sind die transparenten Lamellen und Aluschienen, die Cruz-Diez in exakten Abständen auf einigen seiner Werke fixiert und die – je nach Blickrichtung – für erstaunliche Effekte sorgen.
Gute Physikkenntnisse sind hier jedenfalls mindestens genauso wichtig wie der virtuose Umgang mit dem Stift. Überhaupt wurde in den Frühzeiten der optischen Kunst Anfang der 60er Jahre eher geschnippelt und geklebt. Man sieht das an der „Irradación del color“(„Farbirritation“), einer Arbeit von 1959, die mit unfassbarem Aufwand entstanden sein dürfte. Aber nur Perfektion bringt eben auch die Wirkung – das war bei Cruz-Diez’ berühmtem Kollegen Victor Vasarely nicht anders. Und was heute mit hochkomplexen Computerprogrammen entworfen wird und sich ratzfatz aus dem Drucker schiebt, musste einst mühsam ausgetüftelt und mit der Hand zusammengesetzt werden. Cruz-Diez lässt sich sogar in seine digitalen Karten schauen: Im MKK steht ein Rechner, an dem ganz in seinem Stil vom Besucher gestaltet werden darf.
Was so technisch anmutet, hat aber nicht nur eine ungemein sinnliche Komponente, sondern auch einen poetischen Ausgangspunkt. Carlos, der in den 20er Jahren in Venezuela aufwächst, sitzt am liebsten im Schaufenster. Seine Eltern besitzen eine Sodafabrik, und im Schein des Sonnenlichts, das durch die Scheiben fällt, entwickeln sich auf den eleganten Siphonflaschen die tollsten Farbspiele. Cruz-Diez’ Humor und seine wohltuende Bodenständigkeit hindern ihn daran, von einem Erweckungserlebnis zu sprechen. Doch das Licht und vor allem die Farbe lassen ihn nicht mehr los. Er studiert an der Kunsthochschule seiner Heimatstadt Caracas und arbeitet danach als Werbegrafiker und Comiczeichner – da kommt es auf die pointierte Linie an. Was ihn tatsächlich umtreibt, ist die Wirkung der Farbe.
Cruz-Diez verschlingt sämtliche Theorien zwischen Leonardo da Vinci und Bauhausmeister Johannes Itten; auch Goethes Farbenlehre hinterlässt bei ihm einen großen Eindruck. Und er beschäftigt sich auch mit den kühnen praktischen Farbmeistern der Vergangenheit. Dass es ihn 1960 nach Frankreich zieht, hat damit zu tun: Seurat und Monet sind nur zwei Anhaltspunkte. Bis heute lebt Cruz-Diez in Paris – und geht immer noch täglich ins Atelier. Das wird mittlerweile von der Familie am Laufen gehalten, „die Kinder sind hier aufgewachsen, sie kennen meine Arbeit am besten“, sagt er im Video. Und dabei ist er im hohen Alter so präsent wie seine Kunst, die im New Yorker MoMA, in der Tate Modern in London und im Centre Pompidou von Paris hängt.
Darauf schielt natürlich jeder Künstler; aber dennoch sieht CruzDiez seine Farbspektakel am liebsten im öffentlichen Raum und besonders an Orten des Transits, also auf Bahnhöfen oder Flughäfen. Über sein bekanntestes Werk eilen täglich Tausende von Passanten: In Caracas hat er die FlughafenHaupthalle in eine 300 Meter lange Kunstmeile verwandelt. Sechs Millionen Emaille-Plättchen wurden 1974 verarbeitet – wer lässt sich da noch von Leuchttafeln und blinkenden Exit-Schildern ablenken?
Seine bunten „Cross Walks“-Zebrastreifen sind so etwas wie gemalte Kleinversionen dieser FlughafenAttraktion. Seit Mitte der 70er Jahre hat sie Cruz-Diez für zahlreiche Städte rund um den Erdball entworfen. Und jetzt gehört also auch Ingolstadt zur illustren Reihe zwischen Miami und Marseille. Schade eigentlich, dass dieser Hingucker nach der Ausstellung gleich wieder entfernt wird.
Farbstudien in Theorie und Praxis
Carlos Cruz Diez – Color in Moti on“läuft bis 16. September im Mu seum für Konkrete Kunst Ingolstadt, Tränktorstr. 6–8. Geöffnet Di. bis So. von 10 bis 17 Uhr
Carlos Cruz Diez
Geburt 1923 in Caracas, Venezuela Ausbildung bis 1945 in den ange wandten Künsten, als Kunstpäda goge sowie als Kunsthandwerker Berufsausübung als Designer, Hochschulpädagoge und Kunst schulleiter in Caracas Auswanderung 1965 siedelte Cruz Diez nach Frankreich über, um dort in Arras und Paris zu lehren Künstlerische Einflüsse kinetische Kunst sowie die Maler Georges Seurat und Josef Albers. Ausstellungen Cruz Diez hatte ne ben Galerie Präsentationen auch Ausstellungen u. a. in Cambridge/ USA und Sydney Auszeichnungen Ehrendoktor von Caracas und von Merida (AZ)