Ihr Bruder will sie töten lassen
Astrid Holleeder, 52, lebt an einem geheimen Ort. Ein aktuelles Foto von ihr? Niemals, viel zu gefährlich. Ihr Bruder Willem ist der bekannteste Verbrecher der Niederlande und steht wegen Mordes vor Gericht – weil Astrid ihn verriet. Nun sinnt er auf Rach
Amsterdam Plötzlich sind da die Worte, die einem den Atem rauben: „Wenn mein Bruder rauskommt, werden wir nicht mehr lange zu leben haben.“Dieser Bruder ist der berühmt-berüchtigtste Kriminelle der Niederlande: Willem Holleeder. Genannt: die Nase – wegen der markanten Form des Organs in seinem Gesicht. Viele Jahre hat er die Unterwelt von Amsterdam beherrscht und, so sieht es die Staatsanwaltschaft, eine Blutspur von Auftragsmorden hinterlassen. Seit Februar wird dem 59-Jährigen der Prozess gemacht, unter anderem wegen fünffachen Mordes. Die Frau, die ihn verraten hat, ist seine Schwester. Die nun um ihr Leben fürchtet.
Astrid Holleeder, 52, lebt unter Polizeischutz irgendwo in den Niederlanden. Eine große Frau mit wachen Augen, elegant und selbstbewusst, die hinter einer rahmenlosen Brille alles um sich herum zu beobachten scheint. Das Gespräch findet an einem sicheren Ort statt, in einem von außen nicht einsehbaren Raum. Eine Kamera scannt jeden, der durch die Tür will. Aus Sicherheitsgründen lässt Holleeder sich nicht fotografieren. Und doch wirkt sie nicht wie eine, die jeden Morgen mit dem Gedanken aufwacht, dass ein Kopfgeld auf sie angesetzt ist. „Wim“, wie sie ihren Bruder nennt, hat es geschafft, aus seiner Hochsicherheitszelle heraus den Auftrag für ihre Ermordung zu erteilen. Auch ihre Schwester Sonja soll sterben, denn auch sie will gegen ihren Bruder aussagen.
Umso verrückter ist die Tatsache, dass dieser Mann bis vor kurzem eine geradezu irrsinnige Popularität in seinem Land genoss. Man muss sich das vorstellen: Holleeder war 1983 mitverantwortlich für die Entführung von Alfred Heineken, dem inzwischen verstorbenen Besitzer des gleichnamigen Bier-Imperiums. Drei Wochen lag Heineken unter unmenschlichen Bedingungen in Ketten. Holleeder bekam elf Jahre, fünf davon saß er ab. Wegen Erpressung saß er noch einmal im Knast.
Später, als er frei war, fingen Schauspieler und Sänger an, Selfies mit ihm zu machen. Die Leute erkannten ihn auf der Straße. „Wim“, riefen sie ihm nach, als wäre er ein Filmstar. Er schrieb Kolumnen für eine Illustrierte, machte Werbung für Uhren und nahm mit einem bekannten Rapper eine CD auf. Ein Mann, der König der Unterwelt war. Und nicht einmal davor zurückschreckt, eigene Familienangehörige umbringen zu lassen.
Jahrelang, sagt Astrid, habe Wim Holleeder sie, ihre Schwester und seinen jüngeren Bruder Gerard instrumentalisiert. Sonjas Mann Cor wurde in seine Geschäfte mit hineingezogen, auch in die Heineken-Entführung. Irgendwann zweigte er selbst Geld ab. Eines Tages wurde Cor vor den Augen seines Sohnes erschossen. Es war der Wendepunkt im Leben von Astrid und Sonja. Als Wim Sonja drohte, auch ihre Kinder zu ermorden, wenn sie nicht tut, was er sagt, gelang es Astrid, die Schwester mit ins Boot zu holen. Gemeinsam wollten sie Wim zu Fall bringen. Endgültig. Ein gefährliches Doppelleben begann.
Wenn Astrid Holleeder darüber spricht, wirkt sie kein bisschen verunsichert. Sie fühlt sich ihrer Tochter verpflichtet: „Dafür tue ich es, ich will nicht, dass er sie erwischt.“Lieber setzt sie ihr eigenes Leben aufs Spiel. Das tat sie monatelang, indem sie die Gespräche mit ihrem Bruder heimlich aufzeichnete. Doch der war übervorsichtig, wog jedes Wort ab, nutzte eine Codesprache. Lange hielt die Justiz Astrid Holleeder hin, trotz der Beweise und Zeugenaussagen von ihr und Sonja.
Dann endlich kam der Durchbruch. 2016 nahm die Polizei Wim Holleeder fest. Die eigene Schwester, die er als engste Vertraute betrachtete, hatte ihn verraten. „Das ist so unnatürlich, jemandem so etwas anzutun“, erzählt sie. Sie kämpft mit den Tränen. Astrid sagt, sie liebe ihren Bruder – trotz allem.
Nach der Festnahme musste sie untertauchen. Erst versuchte sie noch, ihre Arbeit als Anwältin für Strafrecht fortzusetzen. Dass ausgerechnet sie, aufgewachsen in einer von Gewalt und Kriminalität geprägten Familie, Strafverteidigerin geworden war, hat seinen Grund. „Ich sehe die Menschen, die dahinterstehen“, sagt sie. Sie trifft sie, „wenn sie im tiefsten Elend stecken“. Astrid sagt, sie könne durch deren Fassade hindurchblicken.
Einmal hatte sie einen Klienten, der des Mordes beschuldigt wurde. „Ich habe diesem Mann die Hand gegeben. Womöglich war es die Hand, mit der er den Mord begangen hat.“Die Erkenntnis schockierte sie so sehr, dass sie zur Toilette ging und sich die Hände wusch. Es war eine der ersten Begegnungen mit einem mutmaßlichen Mörder.
Trotzdem verurteilt sie solche Schwerverbrecher nicht pauschal: „Ich habe einmal von einer Frau gelesen, die den Mörder ihres Kindes umgebracht hat. Vor so etwas habe ich großen Respekt. Das klingt schlimm, aber ich empfinde es so.“Familie steht für Holleeder über allem. Sie ist im Jordaan aufgewachsen, einem früheren Problemviertel in Amsterdam, in dem die Familienbande stark waren. Für ihre Tochter, die sie bereits mit 19 bekam, und die Enkelkinder würde sie alles tun. Lange hat sie auch alles für ihren Bruder getan.
Nach Wims Festnahme veröffentlichte sie ein Buch, das nun auf Deutsch erscheint. „Judas“bezeichnet gleichermaßen den Verrat ihres Bruders an der eigenen Familie wie auch den ihren an ihm (Kiepenheuer & Witsch, 24 Euro). Ungeschönt beschreibt sie darin die gewaltgeprägte Kindheit der vier Geschwister, die vom alkoholisierten Vater ebenso geschlagen wurden wie ihre Mutter. Erst als Astrid 15 war, schaffte ihre Mutter den Absprung; sie verließ ihren Mann. Die Tochter hatte da längst begonnen, ein eigenes Leben aufzubauen – fernab der polternden Schritte ihres Vaters, wenn er die Treppe zu den Kinderzimmern hinaufstürmte, auf der Suche nach einem neuen Opfer für seine Wut.
Sie las viel und brachte sich selbst Englisch bei. „Die Schule war mein Ticket aus dem Elend“, sagt sie heute. Zudem hatte sie das sportliche Talent ihrer Mutter geerbt, spielte sogar in der ersten Basketball-Bundesliga. Geprägt hat sie auch der Generalverdacht, unter den ihre Familie nach der Heineken-Entführung gestellt wurde. „Ich bin es gewohnt, dass Menschen nicht nett zu mir sind“, sagt sie. „Trotzdem liebe ich sie.“So wie ihren Bruder.
Vom Vater ihrer Tochter, der sie immer wieder betrogen und mit krummen Geschäften im Rotlichtviertel zu tun gehabt habe, trennte sie sich. Eine Beziehung zu einem anderen Mann kann sie sich nicht vorstellen. „Was sollte ich ihm denn von mir erzählen“, fragt sie dann. Dass sie die Schwester eines Schwerverbrechers ist? Unter Polizeischutz an einem geheimen Ort wohnt? Sich ihr Leben praktisch nur noch zwischen vier Wänden abspielt, immer auf der Hut?
Die Begegnung hat trotzdem etwas Heimeliges. Astrid Holleeder hat Pralinen mitgebracht, es gibt Kaffee und Tee. Sie will, dass sich ihr Gegenüber wohlfühlt. Als während des Gesprächs plötzlich ein dumpfer Knall aus dem Nebenzimmer ertönt, sagt sie nur: „Das galt nicht mir, wir sind hier sicher.“Dass sie ihre Tätigkeit als Anwältin aufgeben musste, fiel ihr nicht leicht. Aber bei den Terminen mit ihren Klienten wäre sie ein allzu leichtes Ziel für ihren Mörder gewesen. „Ich bin nicht wütend über die Konsequenzen meiner Aussagen“, sagt sie. Ihr eigenes Haus gab sie erst auf, als sie einem mutmaßlichen Anschlag um Haaresbreite entging. Es musste sein.
Sie sieht sich jetzt nicht als Moralapostel. „Ich bin das Ergebnis einer Aneinanderreihung von Fehlern“, lautet stattdessen ihre Selbsteinschätzung. Ob sie sich mitschuldig gefühlt hat, wegen der Verbrechen ihres Bruders? Nein, sagt sie. Das Netz ihres Bruders sei lange Zeit undurchdringlich gewesen, sie hatte nichts gegen ihn in der Hand. Stets ging er über Mittelsmänner vor, spielte seine Opfer gegeneinander aus, fast nie ließen sich Straftaten mit ihm in Verbindung bringen. Trotzdem fühlt sich Astrid Holleeder „beschmutzt“. Sie glaubt daran, dass alles, was man tut, auch wieder zurückkommt. Deshalb will sie Gutes tun. „Wenn man viel hat, muss man auch viel geben“, findet sie.
Dass ihr Bruder in irgendeiner Form gerettet werden kann, glaubt sie trotzdem nicht. „Er ist gebrochen, zerstört, krank eigentlich.“Würde man ihn in eine psychiatrische Einrichtung überweisen, wäre er innerhalb von wenigen Wochen draußen – davon ist sie überzeugt. Wim habe Charme: „Er hatte immer Verhältnisse mit den Vollzugsbeamtinnen. Sie machen ihre Haare auf, wenn er an ihnen vorbeigeführt wird.“
Wohl auch deshalb kam er lange mit vielem durch. Wim, der sympathische Kriminelle, der vor Schulklassen spricht. Wim, der „Knuddel-Kriminelle“, der Promi der Unterwelt. „Er hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen“, ist Astrid überzeugt.
Nie habe ihr Bruder auch nur eine Spur von Reue gezeigt. „Er spricht über den Tod, als ob er ein Päckchen Kaugummi kauft.“Wer nicht tut, was er sagt, muss eben mit den Konsequenzen leben – und sterben. Im Prozess sitzt Astrid in einer von Polizeibeamten bewachten Kabine mit Scheiben aus Milchglas. Wim soll sie nicht sehen können – „er manipuliert mit seinen Blicken“. Seine
Plötzlich war der Kriminelle so etwas wie ein Star
Sie sagt: Am liebsten wäre es mir, wenn er tot wäre
Geschichten vor dem Richter, dass er seine Familie doch liebe, macht Astrid wütend.
Die Verhandlung, davon ist sie überzeugt, wird noch Jahre dauern. Der Prozess bestimmt das Leben von Astrid Holleeder. „Hätte ich nicht begonnen, zu schreiben, wäre ich vom Dach gesprungen“, sagt sie. Erst als sie vor kurzem ihr zweites Buch „Dagboek van een getuige“(„Tagebuch einer Zeugin“) in den Niederlanden veröffentlichte, wurde ihr verstärkter Schutz gewährt. Wenn sie könnte, würde sie gerne mit ihrer ganzen Familie verschwinden, sagt sie. Mit ihrer Tochter und den Enkeln, mit Schwester Sonja und ihrer mittlerweile 82-jährigen Mutter. Am liebsten auf einen Bauernhof. „Aber sicherer wäre es wohl unter einer Burka in einem arabischen Land“, sagt sie. Ihr Misstrauen begleitet sie fortwährend – selbst bei Menschen wie Sandra, Wims Ex-Freundin, die ebenfalls gegen ihn aussagt.
So brutal es klingt: Am liebsten wäre es ihr, wenn ihr Bruder tot wäre. Einmal wollte sie ihn selbst umbringen, aber sie konnte es nicht. Bis heute bereut sie ihr Zögern, „als ich die Gelegenheit dazu hatte“. Selbst vor ihrem eigenen Tod schreckt sie nicht zurück. „Der Tod macht mir keine Angst mehr.“Hätte es ihrer Familie geholfen, wäre sie bereit gewesen zu sterben.
Niemand, sagt sie, ist sicher vor Wim. Nicht, solange er lebt. „Manche Hunde muss man in eine Grube werfen, man kann sie nicht einschläfern.“Sie fände es besser für ihn. Am liebsten würde sie es selbst tun. „Ihn von seinem Leiden erlösen.“Sie will kein Opfer mehr sein.