Friedberger Allgemeine

Eine Geschichte von der Bettkante

Vor gut 100 Jahren erfand Mark Twain für seine zwei Töchter ein Märchen zum Einschlafe­n. Aus den Notizen dazu ist nun ein wunderbar verträumte­s und zart illustrier­tes Bilderbuch entstanden

- VON BIRGIT MÜLLER BARDORFF

Große Entdeckung­en sind mitunter nur einem kleinen Zufall zu verdanken: Die Archäologi­e kennt dafür Beispiele, die Literatur ebenfalls. Jüngster unerwartet­er Fund: eine unveröffen­tlichte Geschichte von Mark Twain, dem legendären amerikanis­chen Erzähler, dem Erfinder von Tom Saywer und Huckleberr­y Finn. Die jetzt entdeckte Geschichte, die 1879 in einem Hotelzimme­r in Paris entstanden war, ist allerdings nur in Stichworte­n erhalten, wurde aber von dem amerikanis­chen Kinderbuch­autor Philip Stead und seiner Frau, der Illustrato­rin Erin Stead, in dem wunderbar verträumte­n Bilderbuch „Das Verschwind­en des Prinzen Oleomargar­ine“ausformuli­ert.

Die titelgeben­de Figur ist dafür verantwort­lich, dass Twains Zettel mit dem Geschichte­n-Fragment überhaupt gefunden wurde: Bei den Recherchen zu einem Twain-Kochbuch stieß man im Mark-TwainArchi­v der University of California auf das Wort „Margarine“und jene 16 Seiten mit Notizen. Aber statt der Anleitung für ein wohlschmec­kendes Gericht verbarg sich dahinter ein vielverspr­echend klingendes Märchen. Twain erzählte es seinen Töchtern Clara und Susy zum Einschlafe­n. Es sei ein Ritual gewesen, schreibt Twain in seinem Tagebuch, dass seine Töchter ihm ein Bild zeigten, um das herum er spontan eine Handlung erdachte. Warum Twain von den vielen Geschichte­n, die er erzählt haben muss, gerade von dieser einen Notizen machte, ist nicht bekannt. Ob er je plante, sie auszuarbei­ten, ebenfalls nicht.

Mehr als 100 Jahre später haben das nun Philip und Erin Stead getan, er ein anerkannte­r und mit Preisen ausgezeich­neter Kinderbuch­autor in den USA, sie ebenfalls eine bekannte und renommiert­e Illustrato­rin. Sie erzählen vom Jungen Johnny, der in trostloser Umgebung aufwächst. Dessen Großvater ist ein grausamer Mann, der ihn hungern und leiden lässt. Nur das Huhn „Pest und Hungersnot“, dessen seltsamer Name auf die Flüche des Großvaters zurückgeht, ist ihm in diesem Elend ein Freund. Statt das Tier zu verkaufen, wie ihm der Großvater befiehlt, schenkt Johnny es lieber einer alten Frau, die ihm dafür eine Handvoll Samen gibt. Als der Junge die Blüten einer Blume, die aus dem Samen erwächst, isst, kann er auf einmal mit Tieren sprechen. Mit deren Hilfe macht er sich auf, den verschwund­enen Königssohn Oleomargar­ine zu suchen.

Einige fantastisc­he Kapriolen schlägt das Märchen, das seinen Ton immer wieder mit einem Augenzwink­ern bricht. Freundscha­ft und Mitgefühl, Mut und Verantwort­ung spielen darin ebenso eine Rolle wie die einfache Botschaft, dass man seine Mitmensche­n gut behandeln sollte. Mit schwebend-leichten TuscheIllu­strationen schafft Illustrato­rin Stead einen Kontrast zum schweren Los des Jungen Johnny: Als nähme sie darin auch die Geschichte des so lange verborgene­n Märchens auf, verwendet Stead zarte, verblichen­e Farben in Blau, Rosa und Braun.

„Wir beide versuchten, uns dem Text mit Respekt und großer Ehrfurcht zu nähern. Niemand ist berechtigt, für Mark Twain zu schreiben“, beschrieb Erin Stead in einem Interview mit der New York Times die Schwierigk­eiten beim Vollenden der Twain-Geschichte.

Möglicherw­eise ist das auch der Grund dafür, dass der große Schriftste­ller Twain selbst in einer Art Meta-Ebene in dem Buch zu Wort kommt – in Gesprächen mit seinem Co-Autor Philip Stead. Wie es mit dem Helden Johnny weitergehe­n soll, überhaupt, wie Geschichte­n zu erzählen sind, darüber sprechen und streiten die beiden Schriftste­ller bei einer Tasse Tee. „Ich habe versucht, mich dem Projekt als einem Stück erzählter Überliefer­ung zu nähern“, sagt Philip Stead zum Entstehung­sprozess. „Erst hat Twain die Geschichte seinen Töchtern erzählt, dann mir und jetzt erzähle ich sie weiter.“Wie es mit Bettkanten­geschichte­n eben so ist.

 ??  ?? » Mark Twain, Phi lip Stead, Erin Stead: Das Ver schwinden des Prinzen Oleomar garine. Aus d. Ame rik. von Sophie Zeitz; Knesebeck, 160 Sei ten, 25 Euro – ab 6 J.
» Mark Twain, Phi lip Stead, Erin Stead: Das Ver schwinden des Prinzen Oleomar garine. Aus d. Ame rik. von Sophie Zeitz; Knesebeck, 160 Sei ten, 25 Euro – ab 6 J.
 ??  ?? Mark Twain
Mark Twain

Newspapers in German

Newspapers from Germany