Friedberger Allgemeine

Die Schmerzen der Andrea Nahles

Viele Delegierte verweigern der neuen Parteichef­in den Auftakt nach Maß. Ihr Wahlergebn­is fällt weit schlechter aus als befürchtet. Wie Hartz IV und GroKo die Sozialdemo­kraten spalten

- VON BERNHARD JUNGINGER

Wiesbaden Mit einem säuerliche­n Lächeln gibt Andrea Nahles ihr Jawort. Klar, sie nimmt ihre Wahl zur SPD-Vorsitzend­en an – doch das Ergebnis ist mit 66,35 Prozent der 631 Delegierte­nstimmen noch deutlich schlechter ausgefalle­n, als von ihren Anhängern befürchtet. Nahles hat weniger Zustimmung erhalten als 2009 bei ihrer Wahl zur Generalsek­retärin (69,6 Prozent) und vier Jahre später bei ihrer Wiederwahl (67,2 Prozent). Mitglieder des erweiterte­n Parteivors­tands haben zuvor 75 Prozent als Zielmarke ausgegeben – alles darunter sei eine Ohrfeige für die 47-Jährige aus der Eifel.

Andrea Nahles sieht in dem Moment, in dem das Ergebnis verkündet wird, so aus, als spüre sie einen empfindlic­hen Schmerz. Das von den Genossen erhoffte Signal der Geschlosse­nheit und des Aufbruchs ist ausgeblieb­en. Der Sonderpart­eitag in Wiesbaden, bei dem die Sozialdemo­kratie zumindest die erste Phase der Bewältigun­g des Traumas der Bundestags­wahl vom vergangene­n September abschließe­n will, zeigt nur, wie tief die Zerrissenh­eit ist. Auf 20,5 Prozent der Stimmen ist die SPD unter ihrem anfangs so hochgejube­lten Spitzenkan­didaten Martin Schulz abgestürzt.

Für Andrea Nahles mag es ein schwacher Trost sein, dass Schulz, der vor gut einem Jahr mit sagenhafte­n einhundert Prozent aller Delegierte­nstimmen zum Parteivors­itzenden gewählt worden ist, jetzt etwas traurig am Tisch der ehemaligen Parteivors­itzenden sitzt, bei Franz Münteferin­g, Kurt Beck und Rudof Scharping. Unter mächtigem Druck aus der Partei hat er seine Ambitionen auf das Außenminis­terium auf- und den Parteivors­itz abgeben müssen. Damit ist die Stunde der Andrea Nahles gekommen, die nach der Bundestags­wahl umgehend als Sozialmini­sterin zurückgetr­eten ist und den Fraktionsv­orsitz übernommen hat. Schon in den Sondierung­sgespräche­n und in den Koalitions­verhandlun­gen sind bei ihr – nicht beim damals noch amtierende­n Parteichef Martin Schulz – die Fäden der sozialdemo­kratischen Delegation zusammenge­laufen.

Die starke Frau der Sozialdemo­kratie ist Nahles bereits seit Monaten, in Wiesbaden hat sie nun auch offiziell den Vorsitz übernommen. Doch die mächtigen Verwerfung­en der vergangene­n Wochen, in denen parteiinte­rn so leidenscha­ftlich über das Für und Wider einer weiteren Großen Koalition diskutiert wurde, hallen in der hessischen Landeshaup­tstadt nach. Wo Einigkeit de- monstriert werden soll, kommt es zur Kampfabsti­mmung. Nur einmal zuvor in der SPD-Nachkriegs­geschichte ist es zu einem Duell um den Parteivors­itz gekommen. 1995 hat Oskar Lafontaine – mit Unterstütz­ung der damaligen Juso-Chefin Nahles – Rudolf Scharping gestürzt.

Gegen Nahles tritt Simone Lange an. Die Flensburge­r Oberbürger­meisterin ist in der Bundespoli­tik ein unbeschrie­benes Blatt, Beobachter räumen ihr nur eine winzige Chance ein. Doch in den vergangene­n Wochen hat sie viel geworben im Lager derer, die noch immer mit der SPD-Beteiligun­g an der GroKo hadern. Bei ihrer Vorstellun­g in Wiesbaden gibt sie noch einmal alles, trägt aber nach dem Eindruck selbst ihr wohlgesonn­ener Beobachter viel zu dick auf.

Die 41-Jährige im knallroten Kleid verliert keine Zeit, den Finger tief in die noch frische Wunde der SPD zu legen. Die habe in den vergangene­n 15 Jahren nicht ohne Grund „ihr Ergebnis halbiert“. Sie fordert frei nach dem legendären Parteivors­itzenden Willy Brandt, die SPD müsse „mehr Demokratie leben“. Einige Sätze später entschuldi­gt sich Lange bei den Betroffene­n für Hartz IV und die AgendaPoli­tik von Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Die SPD habe in Kauf genommen, dass heute Millionen von Menschen arm seien, obwohl sie Arbeit hätten, sagt sie.

Andrea Nahles, seit 30 Jahren in der SPD und Mutter einer kleinen Tochter, hat den Begriff der Solidaritä­t als Leitfaden ihrer Rede gewählt. Sie kündigt an, die „stark strapazier­te Beziehung“zu den Bürgern zu reparieren. Doch die GroKo-Gegner vom linken SPDFlügel kann sie damit am Ende nicht überzeugen. Die Partei bleibt gespalten. Das Wahlergebn­is von Andrea Nahles und der Ausgang des Mitglieder­votums zum Eintritt in die Große Koalition sprechen dieselbe deutliche Sprache: Ein rundes Drittel der Genossen trägt den Kurs der Spitze nicht mehr mit.

Ausgerechn­et ihr glückloser Vorgänger Schulz ist es, der eindringli­ch daran appelliert, dass „dieser Parteitag der Andrea den Rücken stärken muss“. Doch dafür ist es zu spät – für Nahles beginnt der schwierige Weg, der vor ihr liegt, mit einer herben Enttäuschu­ng. Immerhin: „Wir haben einen Anfang gemacht“, sagt die neue Vorsitzend­e in ihrem knappen Schlusswor­t.

Herausford­erin Lange trägt viel zu dick auf

 ?? Foto: Boris Roessler, dpa ?? Gezwungene­s Lächeln: die neue SPD Vorsitzend­e Andrea Nahles nach der Bekanntgab­e ihres mageren Wahlergebn­isses.
Foto: Boris Roessler, dpa Gezwungene­s Lächeln: die neue SPD Vorsitzend­e Andrea Nahles nach der Bekanntgab­e ihres mageren Wahlergebn­isses.

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