Friedberger Allgemeine

Tatort London

In der britischen Hauptstadt wurden seit Anfang des Jahres fast 60 Menschen getötet. So viele wie nie zuvor. Die Mordrate ist inzwischen sogar höher als in New York. Oft waren die Opfer Teenager. Wie die 17-jährige Tanesha Melbourne, die zur falschen Zeit

- VON KATRIN PRIBYL

London Nummer 48 war ein äußerst liebenswür­diges Mädchen, werden die Freunde später sagen. Mit ihnen trifft sich Tanesha Melbourne am Abend des Ostermonta­gs in einer Nebenstraß­e im Nord-Londoner Stadtteil Tottenham. Ein entspannte­r Abend war geplant, reden, lachen, chillen, wie es eine Jugendlich­e nennt.

Dann fallen drei Schüsse, abgefeuert aus einem vorbeifahr­enden Auto. Eine Kugel erwischt die 17jährige Tanesha, sie sackt zusammen. Ihre Freunde verständig­en die Mutter im nahen Zuhause, die sofort zu ihrer Tochter eilt. Während Rettungskr­äfte fast eine Stunde lang versuchen, die Jugendlich­e wiederzube­leben, herrscht Verzweiflu­ng. Um 22.43 Uhr erklären die Sanitäter den Teenager für tot, gestorben in den Armen der Mutter.

Tanesha Melbourne ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie ist das 48. Opfer, das in London seit Beginn dieses Jahres getötet wurde. In Walthamsto­w, nur wenige Kilometer entfernt, wird in derselben Nacht einem 16-Jährigen ins Gesicht geschossen. Amaan Shakoor starb einen Tag später. Nummer 49.

Mittlerwei­le sind es beinahe 60 Todesopfer, und erst an diesem Wochenende sind abermals zwei Menschen gewaltsam umgebracht worden. Nachrichte­n, dass die britische Hauptstadt im Februar und März die einst für ihre brutalen Delikte berüchtigt­e US-Metropole New York übertroffe­n hat, sorgen für Empörung. Dabei handelt es sich kaum um ein neues Problem: In den vergangene­n drei Jahren ist nach Angaben der Polizei die Zahl der Morde in der britischen Hauptstadt um 40 Prozent gestiegen. Messerstec­hereien, Schießerei­en, Schlägerei­en – wöchentlic­h bestimmen Attacken die Schlagzeil­en der Medien. Auffällig ist, dass immer mehr junge Menschen zu Opfern der Gewalt werden.

Wie Tanesha Melbourne, die offenbar lediglich in einen Streit zwischen zwei Gangs geraten ist. Heute noch bringen Freunde Blumen in jene schmucklos­e Chalgrove Road in Tottenham, wo sich verwechsel­bare Reihenhäus­er aneinander­drängen und sich triste Sozialbaut­en kaum vom grauen Himmel unterschei­den. Sie zünden Kerzen an, halten sich an den Händen, trauern.

„Ein sinnloser Tod“, sagt Jedi. Der Londoner ist so etwas wie ein Aktivist und empfängt in Notting Hill in West-London mit seiner Hündin an seiner Seite und dem Handy am Ohr. Er trägt Dreadlocks und am Arm blitzt eine große goldene Uhr in der Sonne auf. Früher, da führte der Brite, geschätzt Anfang 30, einen ähnlichen Lebensstil wie jene Jugendlich­en heute. Kriminalit­ät galt irgendwie als cool, auch wenn Jedi selbst erleben musste, wie Freunde „umsonst“starben. Ein enger Kumpel etwa wollte nur kurz zum Supermarkt und sollte nie wieder heimkehren, weil er in einen Streit geraten war und dabei niedergest­ochen wurde. Jedi erzählt von solchen Dingen, als gehörten sie zum Alltag eines Teenagers in London. Er zuckt die Schultern. Es war eben so. Heute ist die Situation ja noch schlimmer.

Über private Dinge will der Vater von zwei Kindern nicht reden, sein Alter nicht sagen und auch Jedi soll als Name genügen. Stattdesse­n möchte er, der der Gewalt abgeschwor­en hat, viel lieber die Situation auf Londons Straßen ändern. Dafür hat er mit einigen Bekannten bereits vor Monaten die Organisati­on G.A.N.G gegründet, ein Akronym des Mottos „Guiding A New Generation“– eine neue Generation geleiten, anleiten, führen. Die Gruppe mit ihren rund drei Dutzend Mitglieder­n hat sich vorgenomme­n, die durch Messer und Schusswaff­en verursacht­en Todesfälle zu reduzieren. Das funktionie­re allein durch Prävention, sagt Jedi und geht deshalb direkt in die Schulen, redet mit und Vertretern unterschie­dlicher Religionen, mit Verantwort­lichen lokaler Projekte und Gangmitgli­edern oder sich verloren fühlenden Jugendlich­en.

„Wir brauchen realistisc­he Lösungen“, sagt Jedi. Die Teenager müssten lernen, Konflikte ohne Messer oder Fäuste zu lösen und sich den Konsequenz­en gewalttäti­ger Attacken bewusst werden. Er wünscht sich zudem, dass mehr Prominente aus der Musik-, Film-, Sport- oder Modeszene, die selbst aus solchen Kreisen stammen, ihren Einfluss nutzen würden. Was ist cool? „Sich um die Familie und Gemeinscha­ft zu kümmern und ein erfolgreic­hes langes Leben zu führen, ist gangstermä­ßig“, sagt Jedi – „und nicht wahllose Gewalttate­n zu verüben, im Gefängnis zu sitzen oder so mit einem Messer verletzt zu werden, dass man einen künstliche­n Darmausgan­g braucht.“Das müssten nicht nur Leute wie er, sondern auch prominente Vorbilder vermitteln. „Zu ihnen schauen die Jugendlich­en auf.“

Von mehr Polizisten auf Londons Straßen hält er dagegen nichts. Seit Monaten streitet sich die Politik darüber, wer für den Anstieg der Gewalt verantwort­lich ist. David Lammy, der Labour-Abgeordnet­e für Tottenham, zeigt sich „zutiefst besorgt“über die Entwicklun­g in seiner Gegend, die sich „im EpizenSozi­alarbeiter­n trum“dieser wiederfind­e. Seiner Meinung nach ist der harte Sparkurs der konservati­ven Regierung schuld am Anstieg der Gewalt. Unter der damaligen Innenminis­terin und heutigen Premiermin­isterin Theresa May wurde im Zuge von Budgetkürz­ungen etwa seit 2010 die Zahl der Polizisten drastisch gesenkt. Waren es in England und Wales im Jahr 2009 noch 144 353 Beamte, kam die Belegschaf­t im vergangene­n September nur noch auf 121 929 – so wenig wie seit 20 Jahren nicht.

Aber gerade die „Bobbies“, wie die Straßenpol­izisten in Großbritan­nien genannt werden, seien in der Lage, innerhalb der Gemeinden wertvolle Informatio­nen zu sammeln, findet Parlamenta­rier Lammy. Auch dass die Londoner Metropolit­an Police etliche Stationen schließen musste und in einigen Problemvie­rteln dadurch weniger präsent ist, bemängeln Kritiker.

Die Konservati­ven schimpfen dagegen auf Bürgermeis­ter Sadiq Khan. Der Labour-Politiker sei nicht Herr der Lage und verfolge keinen Plan. Khan hat seine eigene Strategie: Bereits zu Beginn des Jahres verkündete er, den umstritten­en „Stop and Search“-Einsatz erheblich auszuweite­n. Doch die Diskussion­en, ob die Methode nicht vielmehr die schwarze Minderheit diskrimini­ere, reißen nicht ab. So ergab 2017 etwa eine offizielle Studie, dass Schwarze mehr als acht Mal häufiger angehalten werden als Weiße. Das spontane Durchsuche­n von Passanten sei für die Polizeikrä­fte „ein entscheide­ndes Instrument“, verteidigt­e Khan dennoch den Schritt.

Die Labour-Abgeordnet­e Sarah Jones, die einer parteiüber­greifenden Arbeitsgru­ppe gegen Messerverb­rechen vorsitzt, befürworte­t zwar mehr Polizei auf den Straßen, findet die Probleme aber an zahlreiche­n Stellen. „Der Mangel an öffentlich­en Dienstleis­tungen bei Jugendarbe­it, Bildung und psychische­r Gesundheit hat ein Vakuum hinterlass­en, das gefüllt wird mit einer zunehmende­n Macho-Kultur, die Gewalt verherrlic­ht“, sagt sie. Um diesen Kreis zu durchbrech­en, müsste man Gewalt wie eine Epidemie behandeln – „ein öffentlich­es Gesundheit­sproblem“. Es brauche intensive Jugendarbe­it. Erst kürzlich hat die Regierung eine Kampagne in Höhe von umgerechne­t mehr

Freunde zünden Kerzen an, halten sich an den Händen

Den Jugendlich­en fehlen Perspektiv­en

als 1,5 Millionen Euro initiiert, die anhand echter Geschichte­n von Opfern von Messerstec­hereien via sozialer Medien vor Gewalt warnt und aufklären will.

Jedi unterstütz­t diesen Ansatz. Seiner Meinung nach ist zu einem großen Teil die Politik schuld. Die Armut nehme zu, die Klassenunt­erschiede würden immer gravierend­er und zementiert­er, sodass es an Möglichkei­ten für Jugendlich­e fehle. „Sie sehen keine Perspektiv­e.“Hinzu komme die Wohnungskr­ise, die insbesonde­re bedürftige Menschen aus gentrifizi­erten Gegenden vertreibe. Er zeigt auf eine Straße voller Luxusanwes­en.

Der Gegensatz könnte krasser kaum sein: Im West-Londoner Stadtteil Notting Hill teilen sich die Ärmsten der Gesellscha­ft die Nachbarsch­aft mit den Reichen und klagen, dass sie seit Jahren von den Entscheidu­ngsträgern vernachläs­sigt, von Geld und Macht verdrängt würden. In etlichen Gegenden hat die Arbeitersc­hicht längst aufgegeben – oder aufgeben müssen. „Wenn Menschen von ihrem Zuhause vertrieben werden und junge Leute keine Orte mehr haben, wo sie sich treffen können, wie Gemeindeze­ntren oder Jugendklub­s, wenn sie nichts mehr zu tun haben, weil alle Programme aus Spargründe­n eingestell­t werden, dann resultiert das leider oft auch in steigender Kriminalit­ät“, sagt Jedi.

Kürzlich waren er und Kollegen von G.A.N.G in Tottenham und trafen auch Freunde der getöteten Tanesha Melbourne. Welch eine Verschwend­ung von Leben, sagt er. Immer wieder sagt er das. „Es muss endlich aufhören.“

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Foto: Erica Dezonne, dpa An dieser Stelle der Chalgrove Road im Londoner Stadtteil Tottenham starb am Ostermonta­g Tanesha Melbourne in den Armen ihrer Mutter. Sie war zur falschen Zeit am fal schen Ort. Die 17 Jährige ist das 48. Todesopfer in der britischen Hauptstadt in...
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Foto: Pribyl Jedi war früher selbst kriminell, jetzt will er über Gewalt aufklären.

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