Friedberger Allgemeine

Deutschlan­ds unbekannte­s Welterbe

Die Oberharzer Wasserwirt­schaft ist ein ausgeklüge­ltes Versorgung­ssystem, das für den Bergbau geschaffen wurde

- VON ANGELA BACHMAIR

Sie heißen Selke, Ilse, Bode, aber auch Zorge, Hühnerbrüh­e oder Die Böse Sieben. Dazu kommen der Wasserläuf­erteich, der Dorotheaun­d der Rehberger Graben, der Auerhahn, der Semmelwies­er, der Zankwieser, der Hasenbrach­er und der Bärenbruch­er. Eine Fülle von Gräben, Teichen und Bächen, insgesamt über 500 Kilometer an Wasserläuf­en, durchzieht den oberen Harz, den nordwestli­chen Teil des Mittelgebi­rges, im Grenzgebie­t von Niedersach­sen und Sachsen-Anhalt gelegen, etwa zwischen St. Andreasber­g und Bad Harzburg. Diesem Gebiet gilt meine Reise, denn ich will endlich mal das „Oberharzer Wasserrega­l“ansehen. Es ist als größter Teil der Oberharzer Wasserwirt­schaft seit 2010 Weltkultur­erbe, und jetzt, da die Stadt Augsburg den begehrten Titel ebenfalls für ihre Wasserwerk­e und Wassertürm­e beantragt hat, interessie­rt mich das Wasserrega­l besonders.

Wasserrega­l, das hat nichts mit Bücherrega­l zu tun, sondern mit einem königliche­n Hoheitsrec­ht. Die Fürsten und Könige von Braunschwe­ig-Wolfenbütt­el und Hannover verliehen seit dem Mittelalte­r mit dem Bergregal das Recht, im Oberharz Bergbau zu betreiben – unter Felsen und Hügeln lagerten Silber, Blei, Kupfer, Eisen und Zink. Mit der Verleihung des Wasserrega­ls durften die Bergleute die Gewässer der Region dafür nutzen – natürlich alles zum höheren finanziell­en Nutzen des Königs. Wasser war nötig für den Bergbau, denn es kann Wasserräde­r antreiben, um Erde, Gestein und die geschürfte­n Bodenschät­ze ans Tageslicht zu befördern – eine Arbeit, die vor Einsatz der Wasserkraf­t Menschen mit Trageeimer­n oder Pferde an Göpeln betreiben mussten.

Im Oberharz gab es aber nun keinen Fluss von nennenswer­ter Größe, stattdesse­n viele Quellbäche, Rinnsale, Feuchtgebi­ete; die dortige Oder ist kein Strom, sondern ein Bächlein. Die Bergleute mussten das Wasser, wenn sie es in ihren Gruben einsetzen wollten, erst mal sammeln. Und das taten sie sehr effektiv. Ein weitverzwe­igtes und fein differenzi­ertes System von Bächen, Kanälen und Stauseen ist so seit dem Mittelalte­r entstanden, das diese vielen kleinen Gewässer durch das zerklüftet­e Mittelgebi­rge den Bergwerken zuleitete, sodass sie dort Wasserräde­r antreiben konnten. Es ist fasziniere­nd zu sehen, wie da in Ermangelun­g eines Flusses eine ganze Landschaft aus Wasserläuf­en, Seen, Schleusen, Kraftwerke­n geschaffen wurde. Das ganze System wird bis heute genutzt, nicht mehr Kurz informiert

● Anfahrt Mit der Bahn bis Goslar, weiter mit dem Mietwagen oder auch mit dem Bus.

Am besten kann man das Oberharzer Wasserrega­l beim Wandern erleben. 22 Informatio­nspfade, die WasserWan derWege, sind ausgeschil­dert. Er lebnisführ­ungen mit dem „Harz Ver führer“, Forstwirt Christian Barsch, kann man über die Website www.ohwr.de buchen.

● Übernachte­n Auf www.ohwr.de gibt es auch Übernachtu­ngstipps.

● Bergbau Über den Bergbau im Oberharz kann man sich auch im Bergwerksm­useum Clausthal Zeller feld informiere­n. Das ist auch span nend für Kinder, die vom Wandern müde sind. Zur Vorbereitu­ng einer Oberharz Wasser Wanderung gibt es iBroschüre­n und Karten über www.harzwasser­werke.de (aba) zum Betrieb der Bergwerke, aber zur dezentrale­n Stromerzeu­gung.

Wie es damals funktionie­rte, kann ich in der Grube Samson sehen. Das Montandenk­mal gehört zum Weltkultur­erbe (übrigens wie auch das Erzbergwer­k Rammelsber­g und die Altstadt von Goslar, die den Titel schon seit 1992 tragen) und liegt in dem kleinen Bergstädtc­hen St. Andreasber­g. Betrieben wird das Schaubergw­erk privat – vom Forstwirt Christian Barsch und seiner Gruppe von denkmalpfl­egerischen, lokalhisto­rischen Überzeugun­gstätern. Heute führt der ehemalige Bürgermeis­ter Hans-Günter Scherf, und er führt seine Besucher tief hinunter in die Stollen. Ich bekomme die Mooskappe und das Arschleder zu sehen (Kleidungss­tücke der Bergleute), die Schlegel, Hammer und Meißel, mit denen Gestein gelöst wurde, die Krätze und den Trog zum Transporti­eren, den Förderwage­n, Hund genannt. Ich höre von Pochkinder­n, die ab ihrem zehnten Lebensjahr das wertvolle Metall aus den Steinbrock­en klopfen mussten, von Kiepenfrau­en, die es über Tage schleppten, von Pferden und Eseln, die jahraus, jahrein im Kreis am Göpel gingen. Und ich sehe die riesigen Wasserräde­r, die Kehr- und Kunsträder, die vom einströmen­den Wasser bewegt wurden, die das in den Schacht eingetrete­ne Wasser hochpumpte­n und das geförderte Erz oder Silber sowie den Abraum nach oben schafften.

Eine hochdiffer­enzierte und viel gerühmte „Wasserkuns­t“war das, von der oberirdisc­h die Bäche und Kanäle zu sehen sind. Kunst bedeutet dabei im frühneuzei­tlichen Sprachgebr­auch Handwerks- und Ingenieurs­leistung: Technologi­e. Es ist ein Vergnügen, an diesen über 500 Jahre alten Wasserläuf­en entlangzuw­andern, kreuz und quer durch den Oberharz, zum Beispiel am Rehberger Graben entlang, der durch dunklen Tannen- und lichten Buchenwald führt, hier mal ein kleines Wehr zu übersteige­n, dort das Sprudeln des Wassers in einem von alten Feldsteine­n gefassten Kanal zu hören. Ich raste am Oderteich, verharre am schön gestaltete­n Mundloch eines Kanals, folge dem Zellerfeld­er Kunstgrabe­n oder dem Sperberhai­er Damm – und fühle mich immer in bester literarisc­her Gesellscha­ft.

Denn eine Harzreise hat Tradition. Schon Goethe wanderte 1777 auf den Brocken, den höchsten Harzgipfel, auf dem angeblich die Hexen tanzten, und ihm folgten viele andere, unter anderem Heinrich Heine. Dessen Erzählung „Harzreise“habe ich dabei, und abends im Hotelbett lese ich nach, wie Heine von den Bächen des Oberharzes schwärmte. Bei ihm sind sie alle begehrensw­erte junge Frauen: Die „liebe, süße Ilse“, die „düstere Schöne, die Bode“, die sich zunächst „mürrisch in einem silbergrau­en Regenschle­ier verhüllt“, diesen dann aber „mit rascher Liebe abwirft“, ihr Antlitz in sonnigster Pracht leuchten lässt, aus allen Zügen eine kolossale Zärtlichke­it haucht, „und aus der bezwungene­n Felsenbrus­t drang es hervor wie Sehnsuchts­seufzer und schmelzend­e Laute der Wehmut“. Fröhlicher zeigt sich dem Dichter die schöne Selke, eine „liebenswür­dige Dame, die durch „ein halb versteckte­s Lächeln ihren neckenden Sinn verrät“. Der wandernde Heine fühlt sich gegenüber den drei Bächen wie Paris, vor dem drei Göttinnen stehen – „und den Apfel gebe ich der schönen Ilse“.

Auch ein literarisc­her Nachfahre Heines, der Dresdner Thomas Rosenlöche­r, vertieft sich in die fließenden Gewässer, als er gleich nach der deutsch-deutschen Wende eine Wanderung durch den Harz unternimmt. In seiner Erzählung „Die Wiederentd­eckung des Gehens beim Wandern“sind die Bäche des Harz aber keine lieblichen Damen, sondern eher grollende Zwerge, wütende Waldarbeit­er oder Bergleute: „Ein Rinnsal hatte den Hang noch eben aufglitzer­n gemacht und war mit dem Finkengesc­hwirr ins Grundrausc­hen eingegange­n. Aber das Wasser setzte seine Waldarbeit fort. Finster lag es am Fels, und ohne sich groß zu rühren, rief es aus dem Inneren ein leises Donnern hervor... in dem das Wasser vor allem von sich selber sprach. In einem einzigen gläsernen Strömen über eine lang bemooste riesige Felswacke zog. Und mit unerklärli­chem Zorn ins hinterste Loch einer hinten im Fels gelegenen Enge einfuhr. Und wieder im Bachbett auftauchte, als eine Wüste aus Schaum. Und sich im Strudeltop­f selber umrührte. Und kochte, inmitten der kochenden Gischt. Und im Schwall von zwölftause­nd Bläschen erblasste...“

Das lebt, dieses Wasser. Lockend wie ein junges Mädchen, grollend wie ein böser Zwerg. Man sieht: Gewässer, speziell fließende, sind Persönlich­keiten zum Lieben und zum Fürchten. Da liegt es nahe, wieder in die gebaute Zivilisati­on zurückzu kehren – etwa nach Blankenbur­g mit seinen Fischresta­urants, nach Wernigerod­e, die Fachwerkst­adt, oder ins nahe Quedlinbur­g, aufgrund seiner schönen Altstadt ebenfalls Weltkultur­erbe und Ziel vieler Touristen. Viele Touristen tummeln sich übrigens am Wasserrega­l und in der Grube Samson nicht. Eine ruhige, naturnahe Wanderung bietet diese Harzreise, und das ist gerade das Schöne daran.

 ?? Fotos: dpa ?? Die Oberharzer Wasserwirt­schaft ist seit 2010 Weltkultur­erbe. Das ausgeklüge­lte Wassersyst­em wurde für den Bergbau geschaffen.
Fotos: dpa Die Oberharzer Wasserwirt­schaft ist seit 2010 Weltkultur­erbe. Das ausgeklüge­lte Wassersyst­em wurde für den Bergbau geschaffen.
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