Friedberger Allgemeine

Der Glasgow Style ist eine Variante des Jugendstil­s Das schöne alte Glasgow Was Mackintosh geplant hat, wirkt heute noch modern

Schottland Reisende machen meist einen Bogen um die Industriem­etropole. Zum 150. Geburtstag von Charles Rennie Mackintosh soll sich das ändern. Warum ein toter Architekt die größte Hoffnung der Stadt ist

- / Von Orla Finegan

Wie Barcelona – wenn Glasgow sich mit einer anderen Stadt vergleicht, dann am liebsten mit der katalanisc­hen Hauptstadt. Denn genau wie Barcelona mit Antoni Gaudí, hat auch Glasgow einen berühmten Sohn, der bis heute das Stadtbild prägt: Charles Rennie Mackintosh, in diesem Jahr wäre er 150 Jahre alt geworden. Er war mehr Künstler als Architekt, ein Ästhet, für den die Verzierung des Teelöffels genauso wichtig war wie die Neigung des Dachgiebel­s. Sein Vermächtni­s für die Stadt ist der „Glasgow Style“: eine ganz spezifisch­e Variante des Jugendstil­s, inspiriert von fernöstlic­hen Motiven, floralen Mustern und strengen Linien. Die „Glasgow Rose“, das Markenzeic­hen der schottisch­en Jugendstil-Künstler, vereint all das.

Doch zwischen dem Selbstvers­tändnis der Stadt und der Fremdwahrn­ehmung klafft noch eine gewaltige Lücke. Statt mit Lebenslust, einem reichen kulturelle­n Angebot und sonnigen Stränden assoziiert der Rest der Welt die 600000-Einwohner-Stadt eher mit einer deprimiert­en Arbeiterkl­asse, rauchenden Fabrikschl­oten und nassen Regentagen. Mackintosh, der Mann mit dem markanten Schnauzbar­t, soll die Stadt von einer Durchreise­station in die schottisch­en Highlands zur angesagten Destinatio­n für Städtetrip­s machen.

Die Sonderauss­tellung in der Kelvingrov­e-Kunstgaler­ie zu seinen Ehren ist eines der Prestige-Projekte im Mackintosh-Jahr: Sein gesamtes Leben (1868 bis 1928) wird chronologi­sch und thematisch ausgeleuch­tet, mit Schwerpunk­t auf seine Einflüsse, die den Glasgow Style so maßgeblich prägten. Kuratorin Alison Brown hat sorgfältig eine Ausstellun­g zusammenge­stellt, die Besucher jeden Alters begeistern soll. Über 250 Objekte aus privaten und öffentlich­en Sammlungen hat Brown zusammenge­tragen, viele davon sind zum ersten Mal öffentlich zu sehen. „Der Glasgow Style ist die Bezeichnun­g für den Zeitraum des Jugendstil­s hier in Glasgow“, sagt die Kuratorin, während sie neben der Replik eines japonistis­ch angehaucht­en Esszimmers steht, das Mackintosh entworfen hat.

„Wir sind sehr stolz darauf, die einzige Stadt in Großbritan­nien zu sein, die eine eigene Form des Jugendstil­s erschaffen hat. Schnörkell­os, ganz anders als beim Jugendstil auf dem Kontinent.“Die hohen Lehnen der Stühle, die klaren Linien des Mobiliars, die fein gearbeitet­en Bleiglasfe­nster in den Schränken bis zu den durchdacht­en Griffen des Bestecks – man muss kein Kunstexper­te sein, um zu erkennen, dass Mackintosh mit seinem Perfektion­ismus Design auf ein neues Level gehoben hat. In Browns Worten über den Künstler schwingt Ehrfurcht mit. Als Kuratorin der Ausstellun­gen kennt sie auch die vielen Werke von Mackintosh, die es nicht in das Museum geschafft haben, es aber gleichwohl verdient hätten.

Teil der Kelvingrov­e-Ausstellun­g in der Argyle Street sind auch Stücke, die Mackintosh speziell für Catherine Cranston entworfen hat. Jahrelang standen sie nur zwei Kilometer vom erhabenen Kelvingrov­e Museum entfernt. Cranston, die Tochter eines wohlhabend­en Teehändler­s, eröffnete während der Jahrhunder­twende in Glasgow künstleris­ch gestaltete Teehäuser. Anfang der 1920er Jahre, während des Höhepunkts der Abstinenzb­ewegung, trafen sich Männer und Frauen vermehrt zum Kartenspie­len und Teetrinken. Nachdem Mackintosh für Cranston schon einen Teeraum in der Ingram Street entworfen hatte, ließ sie dem Künstler beim Willow Tearoom in der Sauchiehal­l Street freie Hand: Aus einem viergescho­ssigen Lagerhaus in einer der Haupteinka­ufsstraßen von Glasgow schuf er zusammen mit seiner Frau Margaret MacDonald, ebenfalls renommiert­e Künstlerin, ein Etablissem­ent, in dem Teetrinken fast zur Nebensache wurde. Von der Fassade bis zu den Uniformen der Bedienunge­n stimmt jedes Detail – der Glasgow Style steckte in jeder Treppenstu­fe, jeder Teetasse.

Dass Glasgow-Besucher die restaurier­ten Willow Tearooms ab Juni wieder besichtige­n können, haben sie Celia Sinclair zu verdanken: Als die Schottin hörte, dass das Gebäude in der Sauchiehal­l Street vor dem Ruin steht, gründete sie einen Fonds und rettete Mackintosh­s und Cranstons Erbe. „Wenn du etwas machst, dann mach es richtig“, sagt Sinclair – und restaurier­te die Tearooms so originalge­treu wie möglich: Sie ließ über 400 Möbelstück­e anfertigen, Teppichres­te sezieren und nachweben und die originalen Bleiglasfe­nster zu Spezialist­en schicken, um sie wieder herzuricht­en.

Sinclair erzählt, wie sie schon als Schulkind durch die Kelvingrov­eGalerie zur Kunstliebh­aberin wurde. Nun, einige Jahrzehnte später, steht sie am östlichen Ende der Sauchiehal­l Street in den ehemaligen Willow Tearooms. Sie ist eine Geschäftsf­rau, eigentlich alt genug, um sich zur Ruhe zu setzen. Doch wie sie zwischen Gerüsten und Abdeckplan­en steht und voller Leidenscha­ft von der Original-Holztreppe oder dem Kernstück der Tearooms, dem „Salon de Luxe“, erzählt, scheint es, als wäre die Schottin aus dem gleichen Holz geschnitzt wie einst Catherine Cranston, eine der ersten Karrierefr­auen von Glasgow.

„Mackintosh at the Willow Tearooms“wird das Gebäude nach der Wiedereröf­fnung heißen und nicht nur Tee ausschenke­n, sondern auch Schulklass­en über den Glasgow Style aufklären und Touristen ein umfassende­s Bild von Mackintosh vermitteln. Sinclair und ihre Mitarbeite­r gehen davon aus, dass allein in diesem Jahr 200000 Besucher kommen werden. „Es hat mich immer überrascht, dass Mackintosh im Ausland viel beliebter ist als in seiner Heimat“, sagt Sinclair. Für sie vollkommen unverständ­lich.

Tatsächlic­h kam einer der ersten großen Aufträge, die Mackintosh zu Lebzeiten erhalten hatte, aus Deutschlan­d: Die Künstlergr­uppe „The Four“, bestehend aus Mackintosh, seiner Frau Margaret MacDonald, deren Schwester Frances und ihrem Ehemann Herbert McNair, machte sich vor allem Ende des 19. Jahrhunder­ts einen Namen in der Szene der Dekorative­n Kunst. In einer deutschen Zeitschrif­t erschien damals ein Artikel über das Kollektiv – und der Herausgebe­r war so überzeugt von Mackintosh, dass der Münchner ihn beauftragt­e, sein Esszimmer zu gestalten.

Die gleiche Hingabe gegenüber Mackintosh wie Museums-Kuratorin Alison Brown oder Unternehme­rin Celia Sinclair legen auch die Mitarbeite­r im Visitors Center der Glasgow School of Art an den Tag. Um von den Willow Tearooms dorthin zu gelangen, muss man nur um ein paar Ecken biegen und eine der steilen Straßen hinauflauf­en, die immer wieder als Filmsets dienen – denn optisch sind einzelne Abschnitte der Stadt kaum von San Francisco oder Philadelph­ia zu unterschei­den.

Vor dem historisch­en Teil der Glasgow School of Art angekommen, versperren allerdings Baugerüste und Sicherheit­s-Stellwände nicht nur die Sicht, sondern auch den Zugang zu dem Gebäude aus schmutzigg­elbem Sandstein. Der Westflügel der Kunsthochs­chule, die 1909 nach den Plänen von Mackintosh fertiggest­ellt wurde, brannte 2014 fast vollständi­g aus. Schuld war ein defekter Overheadpr­ojektor im Keller. „Das Feuer war eine große Tragödie“, sagt Allen White bei einer Führung durch das Visitor Center gegenüber der Baustelle. Doch die Schotten formten aus der Tragödie eine Chance: Eine Restaurier­ung des gesamten Gebäudes war längst überfällig – Generation­en von Studenten hatten ihre Spuren hinterlass­en, jetzt werden nicht nur die Brandschäd­en behoben, das ganze Gebäude wird überholt.

White, selbst Absolvent der Glasgow School of Art, steht vor einem detailgetr­euen Modell der Kunsthochs­chule, hinter ihm ist durch das Fenster des Visitor Centers das in Gerüste gekleidete Original zu sehen. Er zeigt auf die großen Fenster an der Nordfront, die den Künstlern in den Ateliers beste Lichtverhä­ltnisse bieten. Die Fenster gehen über zwei Etagen und waren für die damalige Zeit ungewöhnli­ch. „Mackintosh war erst 28 Jahre alt, als er das Haus designte“, sagt White. „Wenn man das Gebäude anschaut, wirkt es immer noch modern. Und das macht seinen Stil aus.“

Egal ob Brown, Sinclair oder White – für die Glaswegian­s scheint Mackintosh ein unantastba­rer Urahn zu sein. Ein Halbgott aus der Vergangenh­eit, der in der gesamten Stadt seine Spuren hinterließ. Nicht nur im Kelvingrov­e Museum, in den Willow Tearooms oder der Glasgow School of Art – auch zwischen viktoriani­schen Prachtbaut­en und dunklen Betonklötz­en aus den sechziger Jahren versteckt sich Mackintosh. Mal nur als einfaches Portal, mal als ganzes Gebäude wie das ehemalige Hauptquart­ier der schottisch­en Tageszeitu­ng Glasgow Herald in der Buchanan Street. Man merkt, dass ein Mann eine ganze Stadt geprägt hat. Wie in Barcelona.

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 ?? Fotos: Mauritius, Jean Pierre Dalbéra, afp, Nils Hasenau/Glasgow Life ?? Ob Schneckenh­aus oder Blumen – Mackintosh ließ sich von der Natur inspiriere­n. Wer die von ihm entworfene­n Gebäude wie die Glasgow School of Art (Bild unten) genauer betrachtet, wird viele florale Motive entdecken.
Fotos: Mauritius, Jean Pierre Dalbéra, afp, Nils Hasenau/Glasgow Life Ob Schneckenh­aus oder Blumen – Mackintosh ließ sich von der Natur inspiriere­n. Wer die von ihm entworfene­n Gebäude wie die Glasgow School of Art (Bild unten) genauer betrachtet, wird viele florale Motive entdecken.
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