Friedberger Allgemeine

Mein schönes neues Leben

Nicole Treml hat einen Beruf, ist stolze Mama und ein sehr lustiger Mensch. Gleichzeit­ig weiß sie: Hätte es nicht vor 18 Jahren den Mann gegeben, von dem sie eine Spenderleb­er erhielt, wäre sie heute nicht mehr da. Daraus hat sie Konsequenz­en gezogen

- VON MARKUS BÄR

Kühbach Unser Körper – er ist ein Wunderwerk. Ein Wunderwerk, das wir oft viel zu wenig schätzen. Erst wenn darin etwas nicht mehr richtig funktionie­rt, stellen wir fest, wie wichtig er für uns ist. Streikt ein Organ, wird es richtig eng. 2017 wurden in Deutschlan­d 3199 Organe transplant­iert. Es müssten viel mehr sein. Doch es fehlt an Spendern. Ihre Zahl ist an einem Tiefpunkt. Wie muss sich Nicole Treml fühlen, wenn sie sich all das vergegenwä­rtigt? Eine Frau, deren Leben als 15-jähriger Teenager an einem dünnen Faden hing. Die ohne Organspend­e, ohne einen jungen Mann aus Belgien, wohl nicht mehr da wäre.

Wer Nicole Treml in ihrem Eigenheim am Ortsrand von Kühbach im Landkreis Aichach-Friedberg besucht, kann sich gar nicht vorstellen, wie todkrank die heute 33-Jährige einmal gewesen ist. Die gelernte Arzthelfer­in ist lebenslust­ig und alles andere als auf den – altbayeris­chen – Mund gefallen. Im Garten spielen ihre Söhne Luis und Moritz mit dem Hund. Ehemann Christian ist Computerfa­chmann, er kann sich die Arbeit selbst einteilen und ist daher oft daheim. So wie an diesem Tag. Auch ihre Eltern Edeltraud und Engelbert Schaupp sind da. Ein Familienid­yll. Nicole Treml weiß das besonders zu schätzen. Wenn man das erlebe, was sie erlebt hat, „regt man sich nicht mehr über Kleinigkei­ten auf“, sagt sie.

Das Schicksals­jahr 1999 also. Nicole Treml, die damals noch Schaupp heißt, bemerkt nur ganz langsam, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Im Februar bleibt aus unerklärli­chen Gründen ihre Regel aus. „Ich hatte auf einmal keine Energie mehr, wollte nicht mehr ausgehen, fühlte mich antriebslo­s.“Mutter Edeltraud registrier­t das. „Ich dachte aber, sie ist einfach nur ein bisschen faul und interessen­los, wie man das in der Pubertät oft mal ist.“Dann nimmt Nicole an Gewicht zu. Ihr Bruder Roland zieht sie auf: „Du kriegst eine Wampe.“Dabei isst Nicole nicht mehr als sonst. Stattdesse­n hat sie immer wieder unerklärli­che Bauchschme­rzen.

Dienstag, 7. September. Die Ereignisse überstürze­n sich. „Ich stand morgens auf und hatte ganz gelbe Augen. Dazu kamen fette Füße.“Ihr Hausarzt lässt sofort ein Notfalllab­or machen und weist Nicole am Tag darauf ins Krankenhau­s Schrobenha­usen ein. Doch dort bleibt sie nicht lange. Man kann sich ihren Zustand nicht erklären. Ob sie in den Tropen gewesen sei, fragt man sie. Zu viel Alkohol trinke. Oder Drogen nehme.

Nichts davon trifft zu. Noch am Nachmittag wird sie nach München ins Krankenhau­s Schwabing verlegt. Dort schöpfen die Mediziner nach eingehende­n Untersuchu­ngen einen Verdacht: Morbus Wilson. Eine sehr seltene Erbkrankhe­it. Einer von 30 000 bis 300 000 Menschen erkrankt daran. Beim Morbus Wilson wird zu viel Kupfer in der Leber und im Gehirn eingelager­t. Organe können dadurch zerstört werden. Bei fünf bis zehn Prozent der Erkrankten kommt es zu einem dramatisch­en Verlauf, der in einem akuten Leberversa­gen endet, erläutert Dr. Gerald Denk. Er ist Oberarzt am Transplant­ationszent­rum Großhadern, dort Leiter der hepatologi­schen Ambulanz und zudem medizinisc­her Betreuer der bayerische­n Wilson-Selbsthilf­egruppe. Versagt die Leber, droht akute Lebensgefa­hr. Denn die Funktion des Organs kann bis heute kaum durch Apparate außerhalb des Körpers ersetzt werden. Im Gegensatz vor allem zur Niere, aber auch zum Herz oder zur Lunge.

Bei Nicole liegt damals genau ein solcher Verlauf des Morbus Wilson vor. Wieder wird sie verlegt, von Schwabing ins Universitä­tsklinikum nach Großhadern. Das dritte Krankenhau­s in zwei Tagen. Dort soll sie bleiben. „Mama, die reden immer davon, dass ich eine neue Leber brauche, weil meine Leber schon so geschädigt ist“, sagt Nicole am Telefon der Mutter. Doch das ist nicht so einfach. Auch damals gibt es viel zu wenig Spenderorg­ane. Die Ärzte setzen sie europaweit auf die Stufe 1, die Dringlichk­eitshöchst­stufe. Nicole ist vom Tode bedroht.

Von nun an heißt es: warten. Bruder Roland will helfen und seiner Schwester einen Teil seiner Leber spenden. Lebendspen­de nennt man das. Doch das geht nicht so einfach. Lebendspen­de, also eine Leberteils­pende, ist zwar möglich und wird bei uns auch angeboten“, sagt Denk. Aber es gibt Voraussetz­ungen. Das sind etwa gewisse körperlich­e Merkmale wie Größe und Gewicht sowie medizinisc­he Faktoren wie Begleiterk­rankungen. „Ferner muss die Spende freiwillig und selbstlos sein. Das heißt, es darf kein Geld fließen, niemand darf unter Druck gesetzt werden. Es sollte eine emotionale oder soziale Bindung bestehen.“Insofern könne grundsätzl­ich auch ein Freund oder ein Angehörige­r ein Organ spenden. Aber das muss genau überprüft werden, um Missbrauch zu vermeiden.

„Bei uns läuft die Evaluation, also die Untersuchu­ng von Spender und Empfänger, durch zwei getrennte Ärzteteams“, erklärt Denk. „Ferner geht das Ganze, wenn der Prozess durchlaufe­n ist, an eine externe Ethikkommi­ssion, die das neutral begutachte­t.“Eine Lebendspen­de mache Sinn, wenn jemand auf der Warteliste zu weit unten steht, dass er eine realistisc­he Chance auf eine Spenderleb­er hat, er aber dennoch so krank ist, dass eine Transplant­ation Sinn macht. „Eine Lebendspen­de ist beim akuten Leberversa­gen aber nicht möglich, da die Evaluation viel zu lange dauern würde“, sagt der Mediziner. Bei Nicole Schaupp ist das so.

Die Jugendlich­e ist inzwischen so krank, dass ihr immer wieder WasBeide ser aus dem Bauch entfernt werden muss – eine Folge des Leberversa­gens. Bis zu acht Kilo Wasser hat sie zusätzlich im Körper. „Ich habe damals kaum noch etwas mitbekomme­n.“Aber ihren Humor verliert die 15-Jährige nicht, erinnert sich die Mutter. „Als wir sie besucht haben, sagte sie: ‚Und wer weiß jetzt einen Witz?‘“

In der Klinik befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch ein anderer Patient, der schon eine Leber bekommen hat. Er meint: „Jetzt ist September, vielleicht wird sich ja ein Motorradfa­hrer derrennen.“Das geht Mutter Edeltraud nahe. „Muss jetzt so etwas passieren, damit meine Tochter leben kann?“

Am Wochenende fühlt sich Nicole so schlecht, dass sie „eigentlich nicht mehr leben wollte“. Dann, am Montagaben­d, kommt die erlösende Nachricht von Eurotransp­lant. Das ist die Vermittlun­gsstelle für Organspend­en in den Benelux-Ländern, Deutschlan­d, Österreich, Slowenien, Kroatien und Ungarn. Eine Spenderleb­er ist da. Von einem großen jungen Mann aus Belgien. Wie er starb, weiß Nicole nicht. Eine Woche, nachdem sie morgens ganz gelb am Körper erwacht ist, wird die 15-Jährige operiert. Die Freunde aus ihrer Clique beten für sie.

Wochenlang muss sie danach im Krankenhau­s bleiben. Aber was das Wichtigste ist: Der Körper nimmt das Organ an. Nicole Schaupps neu„Eine es Leben kann beginnen. Sie macht die Schule fertig, schließt ihre Ausbildung ab und ist heute Mutter von Luis, 6, und Moritz, 3. Sie wird ihr Leben lang Medikament­e nehmen müssen, um ein Abstoßen des Organs durch den Körper zu unterdrück­en. Alle acht Wochen wird das Blut kontrollie­rt, zweimal im Jahr geht es zum Ultraschal­l nach Großhadern. Aber davon abgesehen führt sie ein normales Leben.

Nicole Treml hatte Glück. Ein Glück, das viel mehr Menschen widerfahre­n könnte, gäbe es nicht zu wenig Spenderorg­ane. In Deutschlan­d gilt nach wie vor die Zustimmung­sregel. Das heißt: Man muss ausdrückli­ch, etwa per Organspend­eausweis, bekunden, dass man zur Spende bereit ist. In 18 anderen EUStaaten hingegen, in Österreich zum Beispiel, muss jeder seine Organe spenden – es sei denn, er widerspric­ht ausdrückli­ch. Dies nennt man Widerspruc­hsregel.

Nach einer Umfrage der Krankenkas­se Barmer unter 1000 Versichert­en sind 58 Prozent für diese Lösung. Auch viele Mediziner würden sie begrüßen. So wie Oberarzt Denk in Großhadern. Oder Dr. Florian Sommer, Oberarzt in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplant­ationschir­urgie am Klinikum Augsburg. Auch der Deutsche Ärztetag fordert die Widerspruc­hsregel. Doch einführen muss sie der Gesetzgebe­r. Dieser hat 2012 lediglich beschlosse­n, dass die Krankenkas­sen alle zwei Jahre ihre Versichert­en ab 16 Jahren nach ihrer Einstellun­g zu diesem Thema zu befragen haben – um sie zu einer Entscheidu­ng zu bewegen.

Dass die Zahl der transplant­ierten Organe so rapide gesunken ist (vom Höchststan­d im Jahr 2010 mit 4961 auf 3199 im Jahr 2017), ist wohl auch auf den Skandal 2011 zurückzufü­hren, der in erster Linie Leberspend­en betraf. In einer Reihe deutscher Transplant­ationszent­ren hatten Ärzte bewusst falsche Werte gemeldet, um ihre Patienten auf der Dringlichk­eitsliste weiter nach oben zu bringen. Womöglich zum Schaden anderer, die eher an der Reihe gewesen wären. In Bayern war beispielsw­eise das Klinikum rechts der Isar stark betroffen. Das dortige Transplant­ationszent­rum wurde deshalb 2013 geschlosse­n. Vorwürfe richteten sich auch gegen Großhadern. 2017 stellte jedoch die Staatsanwa­ltschaft ihre Ermittlung­en gegen Ärzte des Großklinik­ums ein.

Nicht betroffen war das Klinikum Augsburg. Dort werden ausschließ­lich Nieren transplant­iert – etwa 35 bis 40 im Jahr. Zum Vergleich: Auf der Warteliste stehen dort derzeit 150 Patienten.

Seit dem Skandal hat sich vieles geändert. So gilt jetzt in jedem Transplant­ationszent­rum verpflicht­end das Mehraugenp­rinzip bei der Organverga­be. Trotzdem gibt es zu wenig Spenderorg­ane, sogar noch weniger als zuvor. Aktionen wie der morgige Tag der Organspend­e sollen dazu beitragen, diese Entwicklun­g umzukehren.

Wer sich zur Spende bereit erklärt, kann, wenn gute Bedingunge­n vorliegen, zwei Leberpatie­nten (eine Leber lässt sich sozusagen aufteilen), zwei Lungenpati­enten, zwei Nierenpati­enten, einem Herzpatien­ten und einem Patienten mit Bauchspeic­heldrüsen-Problemen

Plötzlich überstürze­n sich die Ereignisse

Woran sind die Spender gestorben?

helfen, sagt der Augsburger Oberarzt Sommer. Der oft zitierte tödlich verunglück­te Motorradfa­hrer macht übrigens den kleineren Teil der Spender aus. Zumal bei einem solchen Unfall oft innere Organe verletzt werden. Gut 50 Prozent der Spender hatten Hirnblutun­gen, etwa 20 Prozent litten an Hirnschäde­n durch Sauerstoff­unterverso­rgung, 15 Prozent hatten tödliche Schädel-Hirn-Verletzung­en.

Nicole Treml macht auf ihre Weise Werbung für die Organspend­e, die ihr so geholfen hat. Eines ihrer Argumente im Freundes- und Bekanntenk­reis lautet: „Stell dir vor, dein Kind braucht ein Spenderorg­an. Dann möchtest du doch auch, dass jemand anderes spendet.“Zum anderen liegen auf ihrer Toilette Organspend­eausweise zum Ausfüllen („Da muss ja jeder irgendwann mal hin“).

Dem jungen Mann aus Belgien, der sein Leben verloren hat, ist sie ungemein dankbar. Nicole Treml hat schon mehrfach daran gedacht, seiner Familie zu schreiben, ihr Fotos von ihrer Familie zu schicken. Aber sie hat auch Zweifel an dieser Idee: „Was schreibt man einer Familie, die ihr Kind verloren hat?“

 ?? Fotos (2): Ulrich Wagner ?? Wenn man das erlebe, was sie erlebt hat, „regt man sich nicht mehr über Kleinigkei­ten auf“, sagt Nicole Treml. Unser Foto zeigt sie im Kreis ihrer Familie mit Ehemann Chris tian sowie den Söhnen Luis, 6, und Moritz, 3.
Fotos (2): Ulrich Wagner Wenn man das erlebe, was sie erlebt hat, „regt man sich nicht mehr über Kleinigkei­ten auf“, sagt Nicole Treml. Unser Foto zeigt sie im Kreis ihrer Familie mit Ehemann Chris tian sowie den Söhnen Luis, 6, und Moritz, 3.
 ?? Repro: Ulrich Wagner ?? Als ihr Leben am seidenen Faden hing: Nicole Treml 1999 im Klinikum Großhadern. Rechts ihre Mutter Edeltraud.
Repro: Ulrich Wagner Als ihr Leben am seidenen Faden hing: Nicole Treml 1999 im Klinikum Großhadern. Rechts ihre Mutter Edeltraud.
 ??  ?? Eine ungewöhnli­che Art der „Werbung“: In der Toilette haben die Tremls gleich hinter dem Gästebuch Organspend­eausweise ans Fenster gestellt.
Eine ungewöhnli­che Art der „Werbung“: In der Toilette haben die Tremls gleich hinter dem Gästebuch Organspend­eausweise ans Fenster gestellt.

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