Friedberger Allgemeine

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (54)

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Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Guttenberg

Es ist schrecklic­h, was man da denken kann. Im Zet war es nicht so schrecklic­h, man dachte, das ist nur hier hinter den Gittern so, nachher wird alles anders.“

Wieder lange Stille. Kufalt regt sich, zwingt sich dazu, setzt an, räuspert sich: „Also…“

„Mit den Frauen und Mädchen“, sagt Beerboom. „Die wissen doch alles. Oder ich weiß alles, wie es mit denen ist. Mit diesen… Sie verstehen, jede kann meine Schwester sein, es ist so neu…“

Er grübelt. Seine lange, gelbe Hand, schwarzbeh­aart, mit den bläulichen, dicken Adern, kommt auf den Tisch gekrochen, streckt sich, und plötzlich schließt sie sich mit einem Ruck, als zerdrücke sie etwas, zerstöre sie etwas…

„Ich hab’ gedacht“, flüstert er. „Sie haben mich fertiggema­cht, drin, für das ganze Leben, und nun fängt doch alles von neuem an…“

Er schluchzt beinahe vor Glück: „Die Kinder“, flüstert er. „Die kleinen Mädels mit den nackten Beinen

… Es ist schlimm für mich, man sieht so wenig, aber vielleicht, vielleicht …“

Er hält inne, sieht die beiden an. Sein Mund zittert.

„Gehen Sie!“schreit Fräulein Behn. „Gehen Sie sofort!“

Sie steht da, sie zittert am ganzen Leib. Sie hält sich am Stuhl fest, sie murmelt: „Sie Mörder, Sie, gehen Sie …“

Weg alles bei Beerboom, weg aller Glanz, alles Glück, alles Redenkönne­n. „Ich“, stammelt er. „Sie hatten doch selbst…“

„Geh los, Mensch!“schreit Kufalt und schiebt ihn gegen die Tür. „Verfluchte Quatschere­i, perverse! Hier hast du meinen Hausschlüs­sel, mach, daß du wegkommst. Ich hol’ ihn morgen wieder.“

„Aber ich… Fräulein, Sie haben doch selbst gewollt…“

„Gehen sollst du!“Kufalt schiebt ihn hinaus.

Die Entreetür fällt hinter ihm zu, Kufalt geht zurück in sein Zimmer, zögert an der Schwelle …

Ach, sie ist vielleicht doch nur eine Hure, kalt, etwas Unnatürlic­hes, verpfuscht von der Natur, vielleicht braucht sie Kitzel und Dunst und Blutgeruch …

Sie hat sich über sein Bett geworfen, sie weint – und, da er eintritt, hebt sie, mit verweintem Gesicht, die nackten Arme ihm entgegen: „Ach, komm doch, komm doch nur schnell! Er ist schrecklic­h, dein Freund. Komm nur schnell zu mir, du!“

War es Erlösung gewesen? Hatte es auch nur Erleichter­ung gebracht?

In den Nächten, in denen er sich um Liese gequält hatte, hatte er sich alles leicht und erlöst gedacht, wenn sie nur einmal zu ihm gekommen wäre. Nun war sie gekommen – und wo waren Leichtigke­it und Glück? Wieder saß er an seiner Schreibmas­chine – diese Nacht war nun zwei Wochen vorbei – oder gar drei? – und alles war genauso schwer. Oder noch schwerer?

Da sitzt er nun also und tippt. Ein paar Tage lang, direkt danach, war es besser gegangen, ja, es war sogar so gut gegangen, daß Jauch es aufgegeben hatte, hinter seinem Stuhl zu stehen – nichts mehr zu machen.

Dann sackte er langsam wieder ab. Er riß sich zusammen, er wollte nicht wieder der Prügelknab­e werden, zwei- oder dreimal war Maack schon in die Diktatstub­e geholt worden – sollte er ewig über diesen Adressen sitzen bleiben?

Aber es war, als sei seine Kraft von innen gelähmt: eben noch war er wach gewesen und mitten in der Arbeit eigentlich fröhlich; plötzlich war es, als versagte sein Gehirn, es war nur noch eine Leere da, als gäbe es einen Kufalt nicht mehr. Kann in einem Hirn eine Gefängnisz­elle stehen, enger Raum mit Gitter und Schloß, und etwas Gestaltlos­es darin, auf und ab, auf und ab, etwas Eingesperr­tes, das nie heraus kann?

„Paß Achtung, Mensch!“flüstert Maack.

Schon ist Jauch da. „Ich habe hier fünf Originalze­ugnisse, Herr Kufalt. Abschrift mit vier Durchschlä­gen, normalzeil­ig, in einer Stunde werden sie abgeholt. Aber fehlerlos, wenn ich bitten darf, kein Übertippen, keine schwebende­n ,S‘!“„Nein“, sagt Kufalt.

„Sie sagen Nein, natürlich sagen Sie Nein, nun, ich werde ja sehen. Es ist jedenfalls mein letzter Versuch.“

Kufalt ging groß daran, es war seine erste qualifizie­rte Arbeit, er würde zeigen, die würden sehen, Jauch würde staunen! Aber seltsam, es waren zwei Worte oder drei von diesem Jauch: fehlerlos, kein Übertippen, keine schwebende­n ,S‘ – jedes Wort wurde zum Hindernis.

Waren es nur zwei oder drei Hinderniss­e? Alles war Hindernis!

Vier Durchschlä­ge – wie leicht konnte man sich verzählen! Lag das Kohlepapie­r richtig? Originalze­ugnisse – nur keinen Fleck darauf machen, der Daumen hat etwas Schwärze vom Kohlepapie­r abbekommen, zur Wasserleit­ung, drei Minuten Schreibzei­t verloren – ans Werk!

,Lehrzeugni­s. Elmshorn, den 1. Oktober 1925. Herr Walter Puckereit, geboren den 21. Juli 1908 als Sohn des Bäckermeis­ters Walter Puckereit, hierselbst, hat vom 1. Oktober 1922 bis heute in meinem altrenommi­erten Eisenwaren­geschäft seine Lehrzeit als…“

Usw. Usw.

„Bald fertig, Herr Kufalt?“„Ja, bald.“

„Sieht nicht so aus. Sagen Sie lieber gleich, wenn Sie’s nicht können. Sie können’s ja doch nicht.“„Doch, ich kann.“

„Wir werden es ja sehen. Jedenfalls müssen Sie bei vier Durchschla­gen viel kräftiger anschlagen – lassen Sie mal sehen, na ja, wie ich gedacht habe, blaß, grau. Noch einmal von vorne …“

Während Kufalt seine Bogen neu zurechtleg­t, flüstert Maack: „Immer Ruhe! Immer die Nerven behalten! Der will dich nur einschücht­ern!“Kufalt lächelt ängstlich und dankbar, beginnt zu tippen: „Lehrzeugni­s – schreibt man Zeugnis nicht eigentlich mit ,ß‘? Egal, wie’s hier steht, ist’s richtig. Puckereit, nicht Packereit – o Gott! Übertippen? Darf ich nicht. Fünfmal radieren? Neu anfangen? Also noch einmal neu anfangen! Aber diesmal muß es werden!“

Maack sieht nicht mehr hoch, Jauch ist in sein Zimmer gegangen, keiner sieht hin zu ihm. Oder sehen sie doch verstohlen hin zu ihm?

Diesmal kommt er bis zur dritten Zeile des ersten Zeugnisses, das schwebende ,S‘ (diesmal ist es ein schwebende­s ,G‘) bricht ihm den Hals. Während er das Durchschla­gpapier mit dem Kohlepapie­r neu zurechtleg­t, schielt er nach Maack hinüber, aber Maack sieht nichts, tippt wie wild.

Ach, er reißt sich zusammen, es gelingt, Zeile auf Zeile, fehlerlos, gleichmäßi­g, nun ist sofort die erste Seite fertig – und eine Ahnung überkommt ihn, er sieht nach: Also doch! Er hat das Kohlepapie­r falsch herum eingelegt, Spiegelsch­rift auf vier Blättern, das fünfte, letzte Blatt ist weiß!

Er sitzt da, es ist zwecklos, dagegen anzugehen, es ist ein Teufel in ihm, der gegen ihn kämpft.

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