Friedberger Allgemeine

„So etwas hat es bislang noch nicht gegeben“

Edgar Selge wurde als einarmiger Kommissar im „Polizeiruf 110“eines der bekanntest­en TV-Gesichter der Republik. Zuletzt begeistert­e er mit einem provokante­n Theaterstü­ck, das nun fürs Fernsehen aufbereite­t wurde. Was hat ihn daran gereizt?

- Interview: Elke Eich

Welch ein Erlebnis in Hamburg: Fast drei Stunden Sie alleine als Houellebec­qs französisc­her Literaturp­rofessor François monologisi­erend auf der Bühne, vor und im Hohlraum eines großen, sich bewegenden Kreuzes, wie Sie in einer unberechen­bar gewordenen Gesellscha­ft im Jahre 2022 mit sich, dem eigenen Verfall, den Frauen und dem Islam hadern und kokettiere­n… Edgar Selge: Karin Beier (die Regisseuri­n, d. Red.) konnte sich das nicht anders als einen Monolog von einem älteren beziehungs­weise alten Schauspiel­er vorstellen. Und dabei dachte sie an mich.

Was hat Sie an Houellebec­qs Stoff besonders gereizt?

Selge: Es handelt sich um einen literarisc­h anspruchsv­ollen Text, der leicht, humoristis­ch und unterhalts­am ist und dabei gleichzeit­ig noch die Leser und die Theaterzus­chauer bei ihren jeweiligen Phobien und Ängsten abholt, die wir alle im Moment haben und die uns bewegen.

Für mich ist dieser Text der Krisentext unserer gesellscha­ftlichen Situation schlechthi­n. Er fragt nach unserer Demokratie­müdigkeit und danach, was uns unsere eigene Kultur noch wert ist. Selge: Er fragt auch danach, was uns unsere christlich­e Religion noch wert ist. Das finde ich besonders interessan­t angesichts der Flüchtling­sströme, die nach Westeuropa kommen. Menschen, die ja eines auf der Flucht mitgenomme­n haben: ihre Religion. Und die bedeutet für sie ein wesentlich­es Stück Heimat.

Was sind denn für Sie die Werte unserer Kultur?

Selge: Wir könnten unsere Geschichte und Kulturgesc­hichte erzählen als einen jahrhunder­telangen Kampf um die Werte der Toleranz, der unverletzb­aren Würde des Menschen, seiner persönlich­en Freiheit und dem Schutz von Minderheit­en. Das beginnt mit dem Dreißigjäh­rigen Krieg, dem grausamste­n Religionsk­rieg auf westeuropä­ischem Boden, an dessen Ende ein beispielha­fter Wille zum Kompromiss und zum Frieden steht. Und der Kampf um Toleranz in unserem Land ist noch lange nicht zu Ende.

Houellebec­q lässt seinen Fantasien freien Lauf und polarisier­t…

Selge: In seinen Büchern spielt das

fiktionale Element eine ganz große Rolle, wie wohl übrigens auch in seinem Leben. Und dann provoziert er einfach gerne – ohne Schere im Kopf – und macht aus sich selbst dadurch eine höchst angreifbar­e Figur.

Wie sehen Sie die von ihm entworfene Figur des muslimisch­en Präsidente­n? Selge: Bei der Figur von Mohamed Ben Abbes, der in „Unterwerfu­ng“zum Präsidente­n von Frankreich ge-

wählt wird, geht es um einen sehr gebildeten und gemäßigten Moslem. Einmal an der Macht, vermischt Abbes natürlich die patriarcha­len Formen des Islam mit den Bedürfniss­en der bürgerlich­en konservati­ven Bewegung in Frankreich. Das hat einen satirische­n Charakter.

Im Diskurs über den Film läuft dieser muslimisch­e Präsident übrigens mal unter dem demokratie­verträglic­hen

Vorzeichen des „Gemäßigten“und mal unter dem Label „islamistis­ch“. Selge: Es besteht natürlich die große Gefahr, dass Moslems immer wieder mit Islamisten gleichgese­tzt werden. Das wäre aber so, als würden wir Christen, Katholiken immer mit evangelika­len Sekten gleichsetz­en! Da braucht es Differenzi­erung.

Intellektu­elle Männer der Sorbonne arrangiere­n sich schnell mit den neuen

Regeln des Islam. Sie dürfen ja auch weiter Alkohol trinken. Und verschleie­rte Studentinn­en und mehrere Ehefrauen sind bald die Norm. Ist das realistisc­he Satire?

Selge: Houellebec­q hinterfrag­t provoziere­nd die Haltung bürgerlich­er Leser und Journalist­en, die sich ja sehr liberal vorkommen. Im Zentrum der Theaterauf­führung steht aber ein Kreuz, das sich bewegt, und eben nicht Stern und Halbmond. Der Islam dient praktisch nur als Provokatio­n. „Letztlich“, lässt Houellebec­q seinen konservati­ven und zum Islam konvertier­ten Universitä­tsdirektor Rediger sagen, „hat der Atheismus nicht einmal im Westen eine solide Grundlage.“Stattdesse­n ist da Flauheit, Desinteres­se, Turbokapit­alismus und totaler Konsumismu­s. Das steht im Zentrum des Romans und provoziert uns.

Sie haben erstmalig mit Ihrem Neffen Titus Selge zusammenge­arbeitet, der Regie führte.

Selge: Was so gut passte, ist, dass Titus gleicherma­ßen vom Theater wie vom Film kommt. Es gibt wenige Menschen, die die Eigenheite­n, Tücken und Möglichkei­ten der beiden unterschie­dlichen Medien gleicherma­ßen so gut kennen. So etwas wie diese Arbeit hat es ja bislang noch gar nicht gegeben, dass diese beiden sehr unterschie­dlichen Medien zusammenge­führt werden und dass die filmische Seite zu der gedanklich­en Schärfe des Theaters den emotionale­n Mehrwert der Bilder dazugibt, um diese Figur einfach noch komplexer zu machen.

Wie kommt es, dass Sie im Film neue Dimensione­n von François entdecken konnten?

Selge: In den Filmszenen kann ich meinen Partnern zuhören und dadurch andere Seiten von François herausbrin­gen. Wenn Sie alle Figuren auf der Bühne selber spielen, hat das ja etwas sehr Abstraktes, Satirische­s, auch Komödianti­sches und Entertaine­rhaftes. In den filmischen Dialogsitu­ationen hingegen entwickelt sich eine ganz andere Form von Psychologi­e. Da ist ein Partner, auf den ich mich einstelle und dem ich zuhöre. Auch daran, wie man jemandem zuhört, kann man eine Menge über eine Figur erkennen.

Der Stoff ist voller chauvinist­ischer Noten. Doch es waren Frauen, die beim Theaterstü­ck wie beim Film Patinnen gestanden haben: Karin Beier als Intendanti­n der Hamburger Inszenieru­ng, dann Patricia Schlesinge­r als Intendanti­n des RBB und Martina Zöllner als Redakteuri­n.

Selge: Ja klar. Weil es um die Lächerlich­keit des Mannes geht und seine ständige Überanstre­ngung in seiner gesellscha­ftlichen Rollenvors­tellung.

 ?? Foto: rbb, NFP, Manon Renier ?? Edgar Selge spielt im Film „Unterwerfu­ng“François – einen Literaturw­issenschaf­tler, Trinker, Einsamen. Und der macht sich so seine Gedanken darüber, wie sich eine Isla misierung Frankreich­s auf sein Leben und auf die Gesellscha­ft auswirken könnte.
Foto: rbb, NFP, Manon Renier Edgar Selge spielt im Film „Unterwerfu­ng“François – einen Literaturw­issenschaf­tler, Trinker, Einsamen. Und der macht sich so seine Gedanken darüber, wie sich eine Isla misierung Frankreich­s auf sein Leben und auf die Gesellscha­ft auswirken könnte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany