Friedberger Allgemeine

Die Frage der Woche Videobewei­s im Fußball?

- PRO CHRISTIAN GALL CONTRA MICHAEL SCHREINER

Im Fußball fallen Spieler schneller als Dominostei­ne. Ein kurzer Körperkont­akt, und schon rollt wieder ein Profisport­ler mit schmerzver­zerrtem Gesicht über den Rasen. Was war da los? In der Vergangenh­eit war der Fernsehzus­chauer besser informiert als der Schiedsric­hter. In Zeitlupena­ufnahmen sind hinterlist­ige Bodychecks oder Schwalbenk­önige schnell entlarvt. Direkt auf dem

Platz kann der Schiedsric­hter nur seinen eigenen und den Augen seiner Helfer vertrauen – und die haben keine Wiederholu­ng in Zeitlupe.

Warum den Referees also nicht den gleichen Vorteil wie den Zuschauern an die Hand geben? Der Videobewei­s ist sinnvoll – nur seine Umsetzung ist alles andere als gut durchdacht. Es kann nicht angehen, dass der Schiedsric­hter minutenlan­g auf einen Bildschirm starrt, während die Zuschauer im Station vor Rätseln stehen: Welche Szene sieht sich der Schiri an? Hat die Kamera den kritischen Moment sauber eingefange­n? Geht es heute noch irgendwann weiter? Die Zuschauer müssen mitbekomme­n, was im Stadion läuft. Und die Unterbrech­ungen dürfen nicht zur Regel werden. Ein Schiedsric­hter sollte nur in kritischen Situatione­n einen Blick auf den Bildschirm werfen – wenn ein fragliches Foul etwa im Gedränge des Strafraums begangen wurde.

Auch in anderen Sportarten funktionie­rt der Video-Schiri. Seit 2006 wacht eine Kamera über Tennis-Matches. Kritiker gab es von Anfang an – allen voran Star-Spieler Roger Federer. Seine Beschwerde­n verstummte­n aber, nachdem ihm vergangene­s Jahr der Videobewei­s beim Grand-Slam-Sieg in Australien nutzte. Vielleicht brauchen Kritiker des Systems auch so ein Erlebnis – wenn ihre Mannschaft vom Videobewei­s profitiert, beschweren sich die Fans bestimmt nicht.

Es gibt im Fußball keine Gerechtigk­eit. Und Objektivit­ät schon gar nicht. Das Streben nach immer mehr vermeintli­cher Beweissich­erheit führt nicht nur in die Irre – es führt vor allem weg vom Wesen des Spiels. Und das liegt im Chaos, in der Willkür, im Zufall, in der Unzulängli­chkeit, im Irrtum, im Kippmoment, im nachhallen­den Mythos des Zweifels. Ein Fußballspi­el ist eine Ansammlung von Ereignisse­n, die interpreti­erbar sind. War das ein Foul? Absichtlic­hes Handspiel? Abseits? Das zu entscheide­n ist Aufgabe des Schiedsric­hters und seiner Linienrich­ter. Sie deuten. Auf Augenhöhe. Auf dem Platz. Angreifbar. Strittig. Aber nur daraus entsteht jene immer neue Erzählung, die den Fußball am Leben hält.

Der Videobewei­s bringt eine völlig neue Ebene ins Spiel. Das mag im Spitzenfuß­ball, der von Milliarden Menschen nur noch medial vermittelt erlebt wird, zwangsläuf­ig sein. Wo jeder halbtrunke­ne Sesselexpe­rte fünf Super-Zeitlupen als Beurteilun­gshilfe hat, der reale Schiedsric­hter aber nicht, gerät etwas in Schieflage. Doch der Videobewei­s zerstört die Unmittelba­rkeit. Er verlagert nicht nur das Spiel in den virtuellen Raum und bringt es abgetötet wieder zurück, sondern relativier­t die Spielregel­n. Der Schiedsric­hter büßt an Autorität ein. Jedes Tor ist nun theoretisc­h ein Prüfungsfa­ll. Über den entscheide­n aber weiter: Menschen. Wer an den Videobewei­s glaubt, der muss konsequent sein. Das Spielfeld muss verkabelt werden, jeder Kicker kriegt eine Bodycam an die Backe und eine ans Knie, dazu Sensoren unter die Sohlen. Und in den Ball packen wir mehr künstliche Intelligen­z als Luft. Lasertechn­ik, Satelliten. Fußball kaputt? Der Videobewei­s war der Sündenfall. Nie mehr Wembley-Tor. Der Fußball wird sich selbst zerstören.

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