Der geplante Tabubruch
Wie Alexander Gauland die letzten Reste des Anscheins bürgerlicher Anständigkeit verspielt
Es dürfte kein Zufall sein, dass AfD-Chefstratege Alexander Gauland gerade jetzt wieder einmal einen Eklat provoziert. Sondern kalte Absicht. Die Rechtspopulisten brauchen dringend Aufmerksamkeit. Doch die Hürde der Provokation, die übersprungen werden muss, um noch Schlagzeilen zu machen, haben Gauland und Konsorten selbst immer höher gelegt. Seit dem Einzug in den Bundestag jagt ein unerträglicher Ausfall gegen Migranten, Muslime, Behinderte oder die „Systemparteien“den nächsten. Und so wichtig es ist, jede einzelne hetzerische Aussage als eben solche zu entlarven, der Verlauf der Auseinandersetzungen folgt längst einer vorhersehbaren Dramaturgie: Auf schmutzelnde AfDPolemik nach dem Motto „man wird ja wohl noch sagen dürfen ...“, folgt die empörte Reaktion im Rest-Parlament. Die wiederum die AfD zum Anlass nimmt, sich als unschuldiges Opfer fieser Attacken mit der „Nazi-Keule“zu stilisieren. Man habe doch schließlich alles ganz anders gemeint …
Irgendwann verliert der Beobachter das Interesse an dem wiederkehrenden Ritual. So bedarf es mittlerweile schon eines ganz gezielten und eindeutigen Tabubruchs, um wieder einmal die Aufmerksamkeit zu bekommen, von der die AfD glaubt, dass sie ihr zusteht. „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, sagte Gauland. Zu Recht wird diese zynische, geschichtsvergessene Relativierung des größten Menschheitsverbrechens entsprechend scharf verurteilt. Gauland bekommt die gewünschte Aufmerksamkeit. Aber er bezahlt dafür einen hohen Preis: Galt der Jurist und Historiker noch vor kurzem als Leitfigur der enttäuschten Konservativen, verspielt er nun die allerletzten Reste des An- scheins bürgerlicher Anständigkeit, den gerade er so sorgsam gepflegt hat. Der frühere CDUMann und Publizist hat die AfD zum Sammelbecken radikaler Kräfte gemacht.
Den Aufstieg der AfD ermöglicht hat nicht nur die Aufmerksamkeit, die ihr durch ihre Ausfälle zuteilwird, sondern weit mehr noch jene, die sie anderen gegeben hat – den Menschen, die sich von der etablierten Politik nicht ausreichend wahrgenommen fühlen. Etwa den Bewohnern abgehängter Regionen, die es in Ostdeutschland und anderswo gibt. In denen die Beteuerungen der Politiker, wie gut es dem Land doch gehe, schlichtweg nicht mit der Lebenswirklichkeit der Menschen übereinstimmen. Die Flüchtlingskrise ab 2015 hat die wirtschaftliche wie die kulturelle Verunsicherung vieler Bürger noch potenziert, die AfD sammelte die Stimmen dankbar ein. Alexander Gauland, der ein gewiefter Polit-Taktiker ist, kennt die Gründe für den Erfolg sehr genau. Wir gegen die anderen – die Erzählung von der AfD als verfolgter Unschuld lebt auch von den Angriffen von außen. Also werden diese provoziert. Auf immer abstoßendere Art. Obwohl die AfD im Moment in den Umfragen zur Wählergunst ja hervorragend dasteht – auch weil der Bremer Asylskandal den Rechtspopulisten fast täglich neue Munition liefert.
Doch Gauland denkt über den Moment hinaus. Er weiß, dass für seine Partei, die in Sachfragen schwach aufgestellt oder – wie in der Rentenpolitik – zerstritten ist, die Fundamentalkritik an der Flüchtlingspolitik wichtigstes „Verkaufsargument“bleibt. Die Bundesregierung aber schickt sich an, dafür zu sorgen, dass es auch bei der Zuwanderung so geordnet zugeht wie in anderen Bereichen staatlichen Handelns. Und was wäre, wenn die Integration der Flüchtlinge gelänge? Wenn die sozialpolitischen Milliardenprogramme der Koalition zu wirken beginnen? Dann könnte es mit den AfDErfolgen schnell vorbei sein – zumindest bei enttäuschten Bürgerlichen und Protestwählern aus abgehängten Regionen. Gauland bliebe nur noch der äußerste rechte Rand, an dem völkische Parolen und Geschichtsrevisionismus gedeihen. Dem biedert er sich schamlos an.