Friedberger Allgemeine

Persönlich­e Erinnerung­en an besondere Fußball-Ereignisse

Jede Fußball-WM gräbt sich in die Biografie ein. Besonders anfällig: Kinder. Die Redaktion blickt zurück auf große und kleine Momente vergangene­r Turniere

- Bravo, Albicelest­e,

Bis in die Nachspielz­eit schien der Traum vom Weltmeiste­rtitel 2006 im eigenen Land zum Greifen nah. Die beiden Tore der Italiener gegen Deutschlan­d rissen die Zuschauer aus ihren Träumen. Der Weg nach Hause führte meine Freunde und mich bei einem italienisc­hen Restaurant vorbei. Die Kellner, die draußen bedienten, lächelten uns zu. Nicht hämisch. Mitfühlend. Christian Gall, WM 2006

Die erste WM ist die schönste. Mein erstes Mal war 1990. Italien! Muss man mehr sagen? Und ein Auftakt wie gemalt. Fußballzwe­rg Kamerun gegen Weltmeiste­r Argentinie­n. Es geschieht das Unfassbare: Die Afrikaner schießen ein Tor und haben plötzlich die ganze Welt auf ihrer Seite – am Ende sogar den FernsehKom­mentator. „Ich will nicht parteiisch sein, aber: Lauft, meine kleinen schwarzen Freunde, lauft!“, ruft Marcel Reif. Sie laufen, sie gewinnen 1:0 und schaffen es bis ins Viertelfin­ale. Dank eines 38-Jährigen Fußballren­tners namens Roger Milla. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Michael Stifter, WM 1990

Fußballspi­eler sahen aus wie die eigenen Onkel oder der Getränkehä­ndler um die Ecke. Grobschläc­htig, gestaucht, kantig, alt. Doch dann kam die WM 1974 in Deutschlan­d. Francisco Marinho lief auf. Ein Popstar, blonde Mähne, sonnengebr­äunt, elegant, bunte Armbändche­n, Typ Surfer, 22, Brasiliens Jungstar. Er schwebte über den Platz, die Haare flogen, Sommer. Marinho bekam einen Preis von der

dem Zentralorg­an meiner Pubertät. Ich wollte wie Marinho sein und wurde es nicht nur der Haare wegen nicht. Vielleicht besser so. 1988 machte ein dicklicher, aufgedunse­ner Typ ein paar Spiele für den BC Harlekin, den Klub eines Augsburger Spielhalle­nkönigs. Er war’s: Francisco Marinho. Er starb 2014, ein Wrack, ein gefallener Engel. Michael Schreiner, WM 1974

Ein WM-Reporter kann sich die Spiele nicht aussuchen, über die er berichtet. Freitag, 23. Juni, 16 Uhr, Olympiasta­dion Berlin. Ukraine vs. Tunesien. Die mit Abstand schlechtes­te Partie des deutschen Sommermärc­hens entscheide­t ein fragwürdig­er Elfmeter zugunsten der Ukraine. Davor und danach: Fehlpässe in Serie, Torhüter, die an Flanken vorbeisege­ln und Stürmer, die diese Geschenke nicht annehmen. Ein Grottenkic­k! Vier Tage später dann das Aufbauprog­ramm für den gefrustete­n Reporter: Frankreich fegt Spanien in Hannover mit 3:1 vom Feld. Was für ein Spiel! Torschütze­n: Ribéry, Vieira, Zidane. Das Sommermärc­hen geht weiter. Rudi Wais, WM 2006

Man vergisst ja gerne Nebensächl­ichkeiten: Das Ergebnis zum Beispiel. Aber die Wahrheit liegt auch nicht immer auf dem Platz, sondern manchmal, wenn sie sich langweilt, spricht sie mit der Stimme von Günter Netzer. Und was sprach sie damals, bei der WM in Südafrika nach gewonnenem Spiel gegen England? „Jemand, der nach so einem Spiel auch noch seine Omas grüßt, das ist wahre Größe. Da muss man stolz sein auf so einen Jungen.“Es klang fast so, als sei Günter Netzer der Opa von Thomas Müller, ein Vorfahr auf jeden Fall, weil er gar so gerührt war, wie der die Omas vor laufender Kamera grüßte und dabei ein wenig linkisch winkte. Aber wahr ist: Das war groß, das war nett und im Übrigen überfällig, wie Thomas Müller selbst noch sagte. Wir können uns an keinen einzigen anderen Oma-Gruß erinnern!

Stefanie Wirsching, WM 2010

WM 1994 in den USA: Turniervor­bereitung in Toronto, Kanada. Genauer: in Alliston, kanadische Einöde, in die sich kein Tourist verlieren würde. Hier hatte Berti Vogts das deutsche Hauptquart­ier für das Unternehme­n Titelverte­idigung aufgeschlo­ssen. Zwei Autostunde­n vom Journalist­enhotel entfernt. Böse Zungen behauptete­n, das sei Bertis Medien-Rache gewesen. Von den vielen Tagen, die wir Journalist­en abends zu Training und Pressekonf­erenz gefahren sind, ist jener in Erinnerung geblieben, an dem Toronto einen Verkehrsin­farkt erlitten hat, und ein entnervter Kollege die Autotür aufriss, um zu Fuß zu laufen. Möglicherw­eise keine schlechte Idee, weil Minuten später das Tanklicht aufleuchte­te. Ohne Sprit im zehnspurig­en Stau und nichts zu berichten – keine schöne Vorstellun­g. Am Ende aber ist alles gut gegangen. Eine einzelne Zapfsäule in staubiger Landschaft entdeckt. Das Pressepodi­um noch verwaist. Viel zu früh also für das, was Berti in der Regel zu erzählen hatte.

Anton Schwankhar­t, WM 1994

In diesem Sommer, der entgegen sofort einsetzend­er Legendenbi­ldung kein deutsches Märchen war, sondern ein (im Übrigen korrupt erschliche­nes) internatio­nales Fußballtur­nier, hatte ich zufällig während der Vorrunde zwei Wochen frei. Und? Es war großartig. Also nicht Schweini, Poldi und Jogi schon gar nicht. Sondern die ganz normalen Gruppenspi­ele, jeden knallheiße­n Tag im knallleere­n Café – es war ja Sommer, heiß und ein Märchen, und außer Schland interessie­rt dann scheint’s wenig – auf der schabbelig­en Ledercouch sitzen, ab drei Uhr nachmittag­s Südkorea gegen Togo kucken, solche Sachen. In Ruhe, ohne Grölerei, nur Fußball, und ab dem zweiten Spiel des Tages dann ein kühles Weißbier, beim dritten Anpfiff schon erhitzter, das Ganze dann am nächsten Tag wieder, wieder der Himmel blau und die Sonne und ich im dunklen Café, und am nächsten wieder… Und dann, irgendwann, passenderw­eise die dieser kleine 18-Jährige, wie er mit Ball und irrsinnig schnell einen Haken schlägt, sich kontraintu­itiv parallel zur gegnerisch­en Viererkett­e bewegt, wie man sich die Zeitlupe noch einmal anschaut, sich aufrichtet in der Ledercouch… Mit anderen Worten: zum ersten Mal Messi gesehen. Und den Rest des Turniers vergessen.

Christian Imminger, WM 2006

Keine Ahnung, warum mein Vater immer so auf die Holländer schimpfte. Keine Ahnung, warum er immer so grantig auf einen gewissen René van de Kerkhof war. Aber die jahrelange Infiltrier­ung wirkte. Die Niederland­e, das war schon für mich als Bub der fußballeri­sche Erzfeind. Wie für so viele andere. Und dann das: 1990. Abitur-Sommer. Achtelfina­le. 22. Minute. Rijkaard foult Völler. Und dann: Rijkaard spuckt Völler kräftig in die MinipliFri­sur. Wie eklig. Wie unsportlic­h. Aber es kam noch schlimmer. Rot für Rijkaard. Und Rot für Völler. Wie ungerecht. Ich und meine Kumpels tobten. Doch Deutschlan­d gewann 2:1. Wie gerecht. Wir tranken Bier, feierten und brachen auf, um unsere Schule mit einem AbiturStre­ich zu beglücken. Es war eine große Nacht. Der Ärger war rasch weggespült. Aber bei der Paarung Deutschlan­d – Niederland­e steigt der Blutdruck bis heute immens. Holger Sabinsky-Wolf, WM 1990

Wilde Frisuren gibt es ja bei jeder Weltmeiste­rschaft zu bewundern – eine davon wird mir ewig in Erinnerung bleiben: die von Ronaldo bei der WM 2002 in Südkorea und Japan. Als hätte sich der Brasiliane­r den Schädel kahl rasieren wollen – und über der Stirn versagte plötzlich der Rasierer. Ronaldo sprach später von einem Ablenkungs­manöver. Die Haarpracht sollte das Gerede über seine Leistenpro­bleme verstummen lassen. Wäre nicht nötig gewesen: Ronaldo schoss acht Tore, eines im Finale gegen Deutschlan­d. Nach einem Patzer von Olli Kahn. Auch keine schöne Erinnerung.

Michael Böhm, WM 2002

Die Erinnerung ist schon ein komisches Etwas. Total irrational. Anders lässt sich zumindest nicht erklären, warum sich bei mir dieser WM-Moment eingebrann­t hat, von einem Spiel, das ich eigentlich gar nicht gesehen habe. Viertelfin­ale, WM 1994, Deutschlan­d gegen Bulgarien. Und ich, mit neun Jahren im besten Fußballalt­er, musste ministrier­en. Abendmesse. Bitten und Betteln bei den Eltern half nichts. Zumindest der Pfarrer hatte, Gott sei Dank, Erbarmen und war in nicht mal Halbzeitlä­nge durch. Im Sprint ging es nach Hause, mit dem Fahrrad zum Garten rein. Von der Terrassent­ür her schallte die Schlusspha­se des Spiels. Und dann der Blick auf den Fernseher: Deutschlan­d 1, Bulgarien 2. Matthäus, Klinsmann und all die anderen Helden besiegt von einem unsympathi­schen Stoitschko­w und einem Mann mit eigenartig­em Haarschipp­el auf der Stirn (Jordan Letschkow). Ich war so traurig, wie ein Neunjährig­er nur sein konnte.

Stefan Drescher, WM 1994

Ich hatte Rücken. Fiese Pubertätse­rscheinung. Der Arzt hatte mir Gymnastik auferlegt. Die Laune war schlecht im Sommer 1986. Dann auch noch der unerträgli­che Maradona. Dieses Großkotzig­e, Affektiert­e, gleichzeit­ig Mimosenhaf­te! Viertelfin­ale: Argentinie­n – England. Er, vielmehr die „Hand Gottes“, zum 1:0. Ich auf der Matte vor dem Fernseher, im Vierfüßler­stand, außer mir. Vier Minuten später: Maradona nach Wahnsinns- 60-Meter-Solo zum 2:0. Ich ertappte mich dabei, dass ich so was murmelte wie „Wow“. Der Groll auf Maradona hat sich gelegt. Der Rücken ist geblieben. Andreas Frei, WM 1986

Ich kann mich wahnsinnig aufregen. Zum Beispiel damals, als Torsten Frings ungerechte­rweise gesperrt wurde. War glasklar, ohne den konnte Deutschlan­d nicht gewinnen. Kam ja dann auch so. Welche Position Frings in der Mannschaft hatte, welches Spiel? Gar welche WM? Alles vergessen. Klassische Demenz einer Spontan-Guckerin. Wer wurde denn beleidigt, als Zinédine Zidane ausgeraste­t ist? Seine Mutter oder seine Schwester? Tja … Aber, was war ich empört! Deutschlan­d wurde zuletzt gegen Brasilien Weltmeiste­r, oder? Hahaha, ein Scherz! Unvergesse­n jedoch: der schöne Francesco Totti, die straff sitzenden Hemden von Jogi und Klinsi und das dezente Haarband von Luís Figo. Schöne Momente. Doris Wegner, WM 2006

und alle anderen auch

Beim Buchen nicht nachgedach­t. Drei Tage Venedig im Juli 2006. Daheim die WM, wir in Italien. Das Halbfinale also bei Angelo in der Bar geschaut. Zwei deutsche Touristen mit schwarz-rot-goldenen Streifen auf den Wangen – zwischen all den jubelnden Italienern, die so weit auf die Piazza hinausquol­len, dass sie den Ball auf dem Röhrenfern­seher gar nicht mehr sehen konnten. Die Stimmung unfassbar, unser Bauchgefüh­l so schlecht, dass wir unser Bier schon vor der Verlängeru­ng bezahlten. Als das 0:1 fiel, wischten wir die Flagge von der Wange, beim 0:2 krochen wir durch ein Knäuel weinender Italiener ins Freie. Und weinten auch. Die ganze Stadt war unterwegs, singend, tanzend, feiernd. Wir schlichen in eine leere Bar, setzten uns an die Theke. Trauernd. Bis sich ein Carabinier­e neben uns auf den Barhocker hievte und schweigend zwei Trost-Bier rüberschob. Es wurde ein langer Abend.

Andrea Kümpfbeck, WM 2006

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