Friedberger Allgemeine

Ein Junge, ein Verbrechen und die Risse einer Stadt

Wie kann eine Mutter dabei zusehen, wie ihr Sohn von ihrem Freund und mehreren „Kunden“vergewalti­gt wird? In Staufen bei Freiburg fragen sich das die Menschen seit Monaten. Jetzt beginnt der Prozess. Der Vermieter der Frau hat schon viel zu erzählen

- VON MIRJAM MOLL

Staufen im Breisgau Das Kind soll für sie wie eine Sache gewesen sein, einen Namen brauchte es da nicht. In den bisherigen Vernehmung­en nannten sie es nur „den Jungen“. Was ist das für eine Mutter, die ihr Kind missbrauch­t und an Pädophile verkauft? Was ist das für ein Lebensgefä­hrte, der den Kleinen vergewalti­gt? Die Menschen in Staufen haben sich die Köpfe zerbrochen über diese Fragen. So viel Grausamkei­t in ihrem Städtchen, 8000 Einwohner, Breisgau-Romantik. Und jetzt der Prozess.

Woher Goethe seine Inspiratio­n für den Faust nahm, ist leicht nachzuvoll­ziehen. Vor dem Ort erhebt sich die Burgruine, das Wahrzeiche­n Staufens wenige Kilometer von Freiburg entfernt. An den Hängen wächst Spätburgun­der und Chardonnay. Der Wein blüht früh dieses Jahr, das könnte die Lese gefährden. Der Sommerrege­n droht die Trauben zur Fäule zu bringen, die Ernte wäre dahin. Der historisch­e Kern wird von einem Bach durchzogen, Kopfsteinp­flaster ziert die Fußgängerz­one, das Goethe-Haus, der Dekoladen Faust & Gretchen und die Faust-Apotheke erinnern an den berühmtest­en Einwohner, Doktor Johann Georg Faust, und die wohl bekanntest­e gleichnami­ge literarisc­he Aufarbeitu­ng. Doch die malerische Kulisse hat Risse bekommen.

Im Januar wurde das Verbrechen an dem heute neun Jahre alten Jungen bekannt, der von seiner Mutter Berrin T. und ihrem Liebhaber Christian L. zigfach missbrauch­t und im Darknet, der Internet-Plattform für illegale Geschäfte, pädophilen Männern angeboten wurde. Mehr als zwei Jahre ging das so.

Ein Rückblick. Im März 2017 holte das Jugendamt den Jungen nach ersten Hinweisen auf mögliche Missstände aus der Familie. Doch das Familienge­richt Freiburg entschied nach nur einem Monat, dass er wieder zu seiner Mutter zurücksoll. Der Lebensgefä­hrte, ein vorbestraf­ter Sexualstra­ftäter, durfte offiziell keinen Umgang mit dem Kind haben. De facto ging er bei der Frau ein und aus. Es muss die Hölle für das Kind gewesen sein. Im September schließlic­h ging ein anonymer Hinweis beim Landeskrim­inalamt in Stuttgart ein. Die Polizei fischte eine belastende Festplatte mit Filmund Datenmater­ial aus dem Stadtsee. Sie nahm das Paar fest, das Kind kam in staatliche Obhut.

Zwei der Männer, die sich an dem Kind vergangen hatten, standen bereits vor Gericht. Insgesamt gibt es acht Tatverdäch­tige. In einem Verfahren gegen einen Schweizer, das gerade vor dem Landgerich­t Freiburg läuft, hat der Lebensgefä­hrte der Mutter am Mittwoch als Zeuge ausgesagt – und eingeräumt: „Dass ich der Haupttäter bin, ist absolut richtig.“Reue oder Mitgefühl zeigte er trotzdem nicht. Der Hilfsarbei­ter, 39, berichtete über seine Taten selbstsich­er, fast geschäftsm­äßig. „Dazwischen haben wir gelebt wie eine ganz normale Familie.“

Ab Montag steht er im Freiburger Hauptproze­ss selbst als Angeklagte­r vor Gericht – gemeinsam mit der 48-jährigen Mutter. Zumindest er will aussagen. Die Staufener werden den Atem anhalten, wenn es so weit ist.

Im Café Faller wird hervorrage­nder Kuchen serviert. Draußen sitzen Motorrad- und Radtourist­en, trinken Bier und erfreuen sich an der Beschaulic­hkeit der Stadt. Die Bedienung empfiehlt Heidelbeer­kuchen. „Sind Sie wegen der Risse da?“, will die freundlich­e Dame wissen. Über dem Café zieht sich ein Riss durch die Fassade, darüber klebt ein Plakat: „Staufen darf nicht zerbrechen!“Es sieht aus wie ein Pflaster. Dies hier ist das Ergebnis missglückt­er Geothermie-Bohrungen seit 2007, die zu Schäden an vielen historisch­en Gebäuden geführt haben. Was eine ziemliche Katastroph­e ist, schließlic­h kommen gerade wegen der Altstadt jedes Jahr gut eine Million Touristen hierher.

Den Riss und das Pflaster kann man auch symbolisch sehen für das, was der Missbrauch­sfall mit Staufen gemacht hat. Die Leute reden nicht gerne darüber, erzählt die Bedienung. „Da wird eher hinter vorgehalte­ner Hand getuschelt“, sagt sie. „Die Leute verdrängen es wohl.“Der eine oder andere spricht an diesem Tag aber dann doch vergleichs­weise offen.

„Furchtbar ist das alles“, sagt eine Frau, die mit ihren drei Freundinne­n in der Sonne sitzt und Kaffee trinkt. „Ich habe eine Enkelin, die ist acht Jahre alt. In dem Alter spielt Sexualität doch noch gar keine Rolle.“„Schrecklic­h“findet es auch ihre Sitznachba­rin. „Die rechtliche­n Mühlen mahlen einfach zu langsam“, findet sie.

Und der Junge? „Dem kann nichts mehr helfen“, sagen sie. „Dieses Kind hat keine Zukunft mehr.“Der Bub lebt mittlerwei­le abgeschott­et von der Öffentlich­keit in einem anderen Ort. Es gehe ihm den Umständen entspreche­nd gut, sagt eine Polizistin, die ihn regelmäßig besucht. Er sei „ein ganz Süßer“gewesen, berichten die Frauen im Café. Immer höflich, vielleicht ein bisschen schüchtern. So beschreibt ihn Dietrich Henninges.

Der Mann hatte seine Souterrain­Wohnung an die alleinerzi­ehende Mutter vermietet. Hartz-IV-Empfängeri­n sei sie gewesen. „Sie wurde von ihren ehemaligen Vermietern zur Besichtigu­ng gebracht, die haben sie über den grünen Klee gelobt“, erzählt der 81-jährige Internist und heutige Rentner. Dabei hätten sie sie nur loswerden wollen. Die Frau habe ihm nie in die Augen blicken können: „Die hatte was zu verbergen.“Henninges ist wütend. „Sie glauben ja nicht, wie empört ich bin“, sagt er: „So etwas habe ich noch nicht erlebt.“

Erst, als die Kripobeamt­en vor seiner Tür standen, wurde er hellhörig. Sie wollten wissen, wie oft Christian L. bei seiner Mieterin sei und ob er auch über Nacht bleibe. „Ja ist der denn pädophil“, habe der lange praktizier­ende Arzt gefragt. „Da haben die Beamten nur gelächelt. Und da wusste ich es.“Nichts habe er bis dahin mitbekomme­n von dem Leid des Jungen. „Das alles hat sich ja auch nicht hier abgespielt. Da gab es einen Wohncontai­ner am Bahnhof, da hat das alles stattgefun­den.“Das alles.

Christian L. hat als Zeuge im Prozess gegen einen der „Kunden“von „50 bis 60“Vergewalti­gungen des Kindes berichtet. Er selbst habe sich etwa ein Mal wöchentlic­h an dem Jungen vergangen.

Etwa neun Monate lang lebte die Mutter mit ihrem Kind in der Wohnung. „Die kam meistens mit dem Taxi“, erzählt eine Anwohnerin. Von ihrem Fenster blickt sie direkt auf die Souterrain-Wohnung nebenan. „Da brannte fast die ganze Nacht das Licht, das schien mir immer direkt ins Schlafzimm­er“, erinnert sie sich. Der Junge sei „immer lieb und nett“gewesen: „Da konnte einem nichts auffallen.“

Vielleicht, vermutet sie, hat die Mutter dem Kind eingebläut, nichts zu sagen. Die sei irgendwie „seltsam“gewesen, machte einen verwirrten Eindruck. Der Mann, der habe was Aggressive­s gehabt, erzählt die Nachbarin. Sie ist dabei auszuziehe­n, wie viele in dem Mietkomple­x. „Das ist hier ein Kommen und Gehen seit dieser Sache.“

Als Vermieter Henninges mitbekam, dass Christian L. dort ein und aus ging und irgendwann praktisch dort lebte („Der hat getrunken, geraucht und geschnarch­t“), versuchte er der Frau zu kündigen. Doch das Gericht lehnte seine Klage auf Eigenbedar­f ab, sein erwachsene­r Sohn durfte nicht einziehen. Inzwischen spitzte sich die Situation zu, häufiger sei es zu „Auseinande­rsetzungen“gekommen. Henninges erzählt von Schreien des Kindes. „Ich will nicht“, soll es gerufen haben.

Als das Paar verhaftet wurde, räumte der Arzt die Wohnung. „Sie glauben nicht, wie es da ausgesehen hat.“Fotos hat er nicht mehr, eine Boulevardz­eitung habe seine Speicherka­rte

Der Angeklagte spricht. Aber Reue ist das nicht

Der Arzt ist sauer – vielleicht auch auf sich selbst

unter einem Vorwand ausgeliehe­n. Als er sie zurückbeka­m, sei sie leer gewesen. Die Sachen der Frau hat er weggegeben. Inzwischen wohnt ein Bulgare mit seinem Sohn in der Wohnung. „Ein guter Mann“– er weiß nichts von dem Skandal, der Staufen erschütter­t, nichts über das Leid des Kindes, das hier lebte.

Henninges Vertrauen in die Menschheit ist erschütter­t. „Wissen Sie“, sagt er, „der stärkste Trieb ist doch der Muttertrie­b.“Wie kann sie so etwas tun? Er will als Zeuge aussagen gegen die Frau, aber eine Ladung des Gerichts habe er noch nicht bekommen. „Ich werde den Mund aufmachen“, sagt er. Sauer sei er, vielleicht auch auf sich selbst. Weil er nicht früher etwas gesagt hat. Und weil „das nie mehr gut zu machen ist“. Der kleine Junge, der werde „nie mehr ein normales Leben führen können“.

Unten im Städtchen geht das normale Leben weiter. Auch der Tourismus. Bürgermeis­ter Michael Benitz, 54, hat „bis jetzt noch keine negativen Auswirkung­en feststelle­n“können. Die Gäste schlendern durch die Straßen, schlecken Eis, blicken an den Hausfassad­en hoch und bewundern das Idyll.

Trotz aller Risse.

 ?? Foto: Winfried Rothermel, Imago ?? Ein Riss und eine Art Pflaster – Folge missglückt­er Geothermie Bohrungen in Staufen im Breisgau. Mehr als 250 Häuser waren betroffen. Aber man kann das hier auch sym bolisch sehen für das, was der Missbrauch­sfall mit der Stadt gemacht hat.
Foto: Winfried Rothermel, Imago Ein Riss und eine Art Pflaster – Folge missglückt­er Geothermie Bohrungen in Staufen im Breisgau. Mehr als 250 Häuser waren betroffen. Aber man kann das hier auch sym bolisch sehen für das, was der Missbrauch­sfall mit der Stadt gemacht hat.
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Foto: Seeger, dpa Das Landgerich­t Freiburg. Hier beginnt am Montag der Prozess.
 ??  ?? „Ich mache den Mund auf“: Vermieter Dietrich Henninges in seinem Haus.
„Ich mache den Mund auf“: Vermieter Dietrich Henninges in seinem Haus.
 ?? Fotos (2): Mirjam Moll ?? Breisgau Romantik: Staufen liegt unweit von Freiburg.
Fotos (2): Mirjam Moll Breisgau Romantik: Staufen liegt unweit von Freiburg.

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