Friedberger Allgemeine

Wenn alles schweigt und einer spricht

Der Fall Gündogan beschäftig­t das Team noch immer. Bundestrai­ner Joachim Löw aber ist angetan von der Stimmung innerhalb seines Kaders – und überrascht mit einer Aussage zu Mesut Özil

- VON TILMANN MEHL

Watutinki Die Vorbereitu­ng auf eine WM ist immer davon geprägt, vom Kleinen auf das Große zu schließen. Spekulatio­nen statt Fakten, Deutungen statt Gewissheit. Im Mittelpunk­t der Ahnungen und Vorahnunge­n vor dem ersten deutschen Spiel am Sonntag steht immer noch Ilkay Gündogan. Eine fundierte Antwort, wie der Mittelfeld­spieler auf die Pfiffe des letzten Vorbereitu­ngsspiels reagiert, blieb bislang aus. Ob der 27-Jährige psychisch angeschlag­en in die Weltmeiste­rschaft startet oder gänzlich unbeeindru­ckt. Ebenso offen ist der Umgang Joachim Löws mit Gündogan. Möglich, dass er ihn vor weiteren Pfiffen schützen will und ihn vorerst nicht einsetzt. Vielleicht will er aber auch ein Zeichen setzen und gewährt ihm gleich gegen Mexiko Spielminut­en. Nach dem Motto: Ich lasse mir die Aufstellun­g nicht von den Fans diktieren.

Löw selbst vermied bei der ersten Pressekonf­erenz in Watutinki eine Ansage, was er mit Mesut Özil und Ilkay Gündogan im ersten Spiel vorhat. Und das zumindest darf als bemerkensw­ert gelten: Bislang nämlich stellte er Özil immer eine Stammplatz­garantie aus. Man wolle die beiden „so weit in Form bringen, dass sie einen Mehrwert für die Mannschaft haben“. Das aber freilich dürfte so auch für die 21 anderen Spieler des Kaders gelten.

Im Vergleich zu den Äußerungen unmittelba­r nach dem 2:1 gegen Saudi-Arabien hat der DFB allerdings offensicht­lich eine Neubewertu­ng der Lage vorgenomme­n. Hatten Löw, Oliver Bierhoff und Co. nach der Partie das Thema einfach für beendet erklärt, äußerten sie sich nun ausgiebig. Dabei überrascht­e Verbandspr­äsident Reinhard Grindel mit der Aussage, die Pfiffe gegen Gündogan seien vor allem in einem gesamtpoli­tischen Kontext zu sehen. „2014 wurde die Integratio­n und die Vielfalt innerhalb der Mannschaft noch positiv gesehen“, so Grindel. „Durch die Zuwanderun­g seit 2015 hat sich hier etwas ge- ändert.“Es müsse mittlerwei­le etwas geben, dass tiefer geht. Dabei darf es zumindest als fraglich gelten, ob das Foto eines deutschen Nationalsp­ielers mit einem radikalen Politiker vor vier Jahren für andere Reaktionen gesorgt hätte, als das nun der Fall war.

Gündogan jedenfalls – und das ist eine dieser Spekulatio­nen der Vorbereitu­ngszeit – wirkte im ersten und wohl auch einzigen für die Medien öffentlich­en Training der WM unbeeindru­ckt. Dabei hatte ihn Löw nach dem vergangene­n Spiel „schon aufrichten müssen“.

Der Deutsche Fußball-Bund hatte am Mittwoch zusätzlich zu den Journalist­en noch 100 Schülern der Deutschen Schule Moskaus das Tor zum Training geöffnet. Fünf Autominute­n vom Mannschaft­shotel entfernt, liegt das Trainingsg­elände von ZSKA Moskau, auf dem Löw die Mannschaft für das Turnier präpariert.

Ein bisschen aufwärmen, ein paar Passübunge­n und dann noch ein Spiel. In abwechseln­den Formatiokl­are nen Acht gegen Acht. Und dann war es Gündogan, der dabei das erste Tor erzielte. Statt Pfiffen wie vergangene Woche in Leverkusen nun Jubel der 100 Kinder.

Löw nahm es wohlwollen­d zur Kenntnis, am meisten aber konnte er sich darüber freuen, dass er nicht noch auf den letzten Metern vor dem Turnier eine Änderung im Kader vornehmen muss. Vor zwei Jahren verletzte sich Antonio Rüdiger noch im ersten Training in Frankreich vor der EM. Jonathan Tah wurde nachnomini­ert. Diesmal brach Sami Khedira die Einheit zwar vorzeitig ab, seine Rückenschm­erzen sollen aber kein Hindernis für die Teilnahme an der Partie gegen Mexiko darstellen.

Dann soll die Mannschaft auch langsam jene Form erreichen, die eine Titelverte­idigung möglich erscheinen lässt. Vor den Toren Moskaus will Löw „am Feinschlif­f arbeiten“. Vor allem die taktischen Fehler in den beiden Freundscha­ftsspielen gegen Österreich und SaudiArabi­en hatten den Trainer doch überrascht. Als wirklich problemati­sch sieht er die bislang gezeigten Leistungen aber nicht an.

Besonders optimistis­ch stimmt den Coach, dass sich in Eppan „ein sehr guter Teamspirit herauskris­tallisiert“habe. Diesen Eindruck mussten Außenstehe­nde nach den Testspiele­n und den Vorfällen rund um Özil und Gündogan in der Tat ja nicht zwingend gewinnen. Doch auch vor vier Jahren hielten Fans und Journalist­en die Wochen vor der WM nicht für gelungen. Später galten Trainingsl­ager und das Campo Bahia als entscheide­nder Faktor auf dem Weg zum Titel.

Eine derartige Wohlfühloa­se erwartet die Mannschaft in Russland wohl nicht. Aber es fehle dem Team auch in Watutinki an nichts, sagte Löw. Einziger Kritikpunk­t: Der Rasen des Trainingsp­latzes sei ein paar Millimeter zu hoch. Sollte das tatsächlic­h das größte Problem des Bundestrai­ners sein, steht einer erfolgreic­hen WM vielleicht doch nicht so viel im Wege, wie bislang angenommen.

 ?? Foto: Patrick Stollarz, afp ?? Alles hört auf sein Kommando: Joachim Löw gestern beim ersten Training mit seinen Spielern in Watutinki. WM Auftakt ist für den Weltmeiste­r am Sonntag (17 Uhr) gegen Mexiko.
Foto: Patrick Stollarz, afp Alles hört auf sein Kommando: Joachim Löw gestern beim ersten Training mit seinen Spielern in Watutinki. WM Auftakt ist für den Weltmeiste­r am Sonntag (17 Uhr) gegen Mexiko.

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