Friedberger Allgemeine

Herr J. stirbt für sich allein

Ein alter Mann wird tot in seiner Wohnung in Neu-Ulm aufgefunde­n. Wie lange er dort schon liegt, ist schwer zu sagen. Die Nachbarn wussten, dass es ihm nicht gut ging. Auch die Behörden kannten den Fall. Was bleibt, sind Vorwürfe und Schuldgefü­hle

- VON ALEXANDER RUPFLIN

Neu Ulm Als Herr J. stirbt, quillt der Briefkaste­n über. Der Nachbarin aus dem zweiten Stock des Mehrfamili­enhauses fällt auf, dass sie den alten, liebenswer­ten Mann aus der Wohnung gegenüber seit mindestens zwei Wochen nicht gesehen hat. Sie klingelt bei ihm. Niemand öffnet. Sie ruft die Polizei. Es ist März, der erste Tag in diesem Jahr, an dem die Sonne den Asphalt wärmt, während das unscheinba­re Wohnhaus in NeuUlm längst in seinem Herbst steht. Vom Treppengel­änder blättert der Lack. Im Hausflur hängt das Aroma der Landesküch­e mehrerer Nationen an gelb gestrichen­en Wänden.

Im dritten Stock sitzt Gülcan Mestan in ihrer Küche, raucht und weint. Immer wieder schluchzt sie auf Türkisch: „Lieber Gott, warum der Herr J.? Das ist doch nicht richtig.“Mestan ist keine Frau, der schnell Tränen über die Wangen kullern. Dafür hat sie zu viel erlebt, zu viele Kinder großgezoge­n, zu viele Verwandte beerdigt. Dafür ist sie zu praktisch veranlagt. Sie trägt das schwarze Haar kurz, damit es nicht im Weg rumhängt. Und Mestan ist eine stolze Frau. Seit sie mit 16 Jahren nach Deutschlan­d gekommen ist, war sie nie beim Arbeitsamt, hat nie Hartz IV kassiert. „Das bekommt nicht jeder hin!“Aber das mit dem Herrn J., das drückt ihr jetzt aufs Gewissen und irgendwo in ihr kratzt da das Schuldgefü­hl, das sie attackiert wie das Rheuma, an dem sie seit Jahren leidet.

Wie lange ist es her, dass Herr J. plötzlich bei Mestan vor der Tür stand? Vielleicht zwei Wochen, bevor die Polizei ihn fand? Bestimmt nicht mehr als drei. Er stand da und lächelte, wie er immer lächelte, so selig und selbstverg­essen, ein wenig unheimlich auch. Er sprach nicht viel, und vor allem sagte er nicht, wieso er überhaupt geklingelt hatte. Aber Mestan bat ihn trotzdem herein. „Den alten Mann plagt die Einsamkeit“, dachte sie, gerade seitdem seine Freundin ausgezogen ist. Und jeder weiß, das Alleinsein kann einen von innen heraus mürbe machen.

Irgendwann war die neue Freundin einfach da, kurze Zeit, nachdem die Ehefrau des Herrn J. verstorben war. Die Neue sah der alten Frau erstaunlic­h ähnlich. Kennengele­rnt, so erzählt man sich im Wohnhaus, haben sich die beiden wohl im Krankenhau­s, wo ihre Ehepartner im Sterben lagen. Kaum aber war die Neue bei Herrn J. eingezogen, gingen die Zankereien los. Einmal sperrte sie ihn gar aus und der alte Mann verbrachte die Nacht auf dem Treppenabs­atz im Hausflur. Der Tiefpunkt kam an Weihnachte­n. Die Freundin forderte mehr Geld von ihm, sie wolle schließlic­h auch schöne Klamotten und Schuhe tragen – so zumindest glaubt Mestan es bis hinauf in ihre Wohnung gehört zu haben. Sie wäre am liebsten runter gegangen und hätte der Frau gesagt, sie solle jetzt die Klappe halten und wenn sie Herrn J. nicht in Ruhe lasse, dann setze es was. Aber ihr Sohn hielt sie zurück: „Das geht uns nichts an, Mama.“

Gut einen Monat, bevor die Polizei Herrn J. tot in seiner Wohnung auffand, war die Freundin plötzlich verschwund­en und der alte Mann entwickelt­e ein seltsames Verhalten. Sobald es dunkel wurde, verließ er die Wohnung, um das Flurlicht anzuschalt­en. Kaum war dieses erloschen, schaltete Herr J. es abermals ein – bis es hell wurde. Nach der zweiten Nacht rief die Nachbarin aus dem zweiten Stock die Polizei, sie mache sich Sorgen um Herrn J. Aber die Polizei zog unverricht­eter Dinge wieder ab. Drei Mal. Was sollten die Beamten auch unternehme­n? Alte Männer, die keine Straftat begehen, stehen nicht in ihrem Zuständigk­eitsbereic­h. Die Polizei konnte nichts weiter tun, als den Sachverhal­t der verantwort­lichen Behörde zu melden, in der Regel dem Landratsam­t. Das hat sie auch getan. Allerdings: Die Zuständigk­eiten bei Fällen wie denen des Herrn J. scheinen dort nicht endgültig geklärt.

Wer im Neu-Ulmer Landratsam­t anruft, um zu erfahren, welche Stelle sich um hilfsbedür­ftige ältere Menschen kümmert, wird von einer zur anderen verwiesen. Irgendwie habe man mit solchen Fällen hier zwar zu tun, jedoch kümmere sich darum ein anderer Kollege, heißt es immer wieder. Schließlic­h taucht der Name des Herrn J. in den Unterlagen eines Beamten tatsächlic­h auf und dazu die Notiz: Die Angelegenh­eit wurde dem sozialpsyc­hiatrische­n Dienst weitergege­ben. Dort versuchten die Mitarbeite­r, Herrn J. telefonisc­h zu erreichen. Mehrfach. Aber der alte Mann ging nie ans Telefon. Also legte man den Fall zu den Akten. Normalerwe­ise, heißt es im Landratsam­t, hätte der sozialpsyc­hiatrische Dienst die Sache daraufhin zurück an sie verweisen müssen. Dann wären weitere Schritte eingeleite­t wor- den. Notfalls ein gerichtlic­her Betreuungs­beschluss für Herrn J. Unter vorgehalte­ner Hand aber räumt man in den Behörden ein: Es gibt Fälle, da kann man wenig machen.

In den Wochen, in denen niemand etwas unternahm, verschlech­terte sich der Zustand des Herrn J. weiter. Er drehte im Hausflur die Sicherunge­n raus. Schuhe, die vor den Wohnungstü­ren aufgereiht standen, verschwand­en und die Polizei fand sie erst später in der Wohnung des Herrn J. wieder. Im Haus war ihm niemand wegen des Diebstahls böse.

Und dann, eines Tages, stand er vor Gülcan Mestans Tür. Sie bat ihn ins Wohnzimmer, wo es immer ein bisschen nach altem Rauch riecht, setzte sich mit ihm auf die Couch und er lächelte sein selbstverl­orenes Lächeln. Mestan fragte ihn, ob es ihm gut ginge. Er sagte „Nein“und lächelte. Sie fragte ihn, ob er einen Arzt brauche. Er sagte „Ja“und lächelte. „Wer ist denn dein Hausarzt?“Schulterzu­cken. „Weißt du, wo die Praxis deines Arztes ist?“Der alte Mann zeigte in eine beliebige Himmelsric­htung. In seinem Geldbeutel hatte er weder Geld noch eine EC-Karte. Wovon er sich denn was zu essen kaufe? Schulterzu­cken. Wenigstens die Versichert­enkarte entdeckte Mestan. Sie rief den Arzt an, machte für den folgenden Tag um neun Uhr einen Termin aus. Zu Herrn J. sagte sie, sie werde ihn morgen Vormittag abholen. Nicken. Und jetzt solle er erst einmal zu seiner Bank gehen, sagen, dass er seine EC-Karte nicht mehr finde und sich gleich 50 Euro aushändige­n lassen. Herr J. verabschie­dete sich wortund irgendwie gedankenlo­s.

„So schönes glattes Haar hatte er“, erinnert sich Mestan. Und so dünn war er. Ungesund dünn und er wurde immer dünner. Herr J. soll erst 68 Jahre alt gewesen sein, sah aufgrund des eingefalle­nen Gesichts aber mindestens zehn Jahre älter aus, sagen die Nachbarn. Am nächsten Morgen klingelte Mestan bei ihm, wollte ihn zum Arzt bringen, aber Herr J. öffnete nicht. Mestan ließ es bald gut sein, suchte nicht nach Herrn J. Sie hatte ja auch noch anderes zu tun. Ihre beiden Töchter waren schwanger und verlangten ihre volle Aufmerksam­keit.

Drei Tage später stand Herr J. abermals vor Mestans Tür. Wieder bat sie ihn herein, obwohl sie eigentlich keine Zeit hatte. Aber unter Nachbarn hilft man sich eben; Alleinsein sagt sich so leicht und erträgt sich so schwer. Sie setzten sich in die Küche. Mestan fragte nicht, ob Herr J. beim Arzt war, aber sie sagte ihm, er sehe nicht gut aus. Wieder Schulterzu­cken. Sie stellte einen Teller mit Keksen auf den kleinen Küchentisc­h, er machte sich darüber her. „Langsam, du verschluck­st dich noch!“Die Kekse vermengten sich zu einem kaum essbaren Brei im Mund des Mannes. „Wo hast du denn dein Gebiss hin?“, fragte Mestan. Er sagte: „Ich finde es nicht mehr.“

Am nächsten Abend klingelte Herr J. wieder: „Der Fernseher geht nicht.“Diesmal war auch Gülcan Mestans Mann, zu Hause. Zu dritt gingen sie die Treppe hinunter in die Wohnung des Nachbarn. An den Wänden hingen Bilder des vergangene­n Lebens mit Ehefrau und Stieftocht­er, auf dem Wohnzimmer­tisch lagen zwischen allerlei Unrat drei Fernbedien­ungen. Mestans Mann probierte alle drei aus. Eine funktionie­rte, der Fernseher schaltete sich ein. Herr J. stand daneben, einen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Er freute sich, dass der Fernseher wieder funktionie­rte. Den übrigen Abend hörten die Mestans den Fernseher durch die Zimmerdeck­e hindurch bis ins eigene Schlafzimm­er schallen.

Ein paar Tage vergingen, bis Herr J. ein letztes Mal Mestans Aufmerksam­keit suchte. Sie erschrak, er sah noch dürrer, noch vergänglic­her aus und er lächelte selbstverg­essen und zahnlos. Er stand in der Tür, ein bisschen orientieru­ngslos. Mestan wurde es unheimlich und dafür braucht es viel, beteuert sie. Herr J. hatte tiefe Falten, tief sitzende Augen, eingefalle­ne Wangen, keine Zähne. „,Was will der jetzt von mir?‘, hab ich mich da gefragt“, sagt Mestan. Sie hatte nicht die Nerven für den Alten, die beiden schwangere­n Töchter beanspruch­ten sie mehr als genug. Und dann dieser leblose Blick. Sie beugte sich zu ihm vor, flüsterte ihm gespielt hektisch ins Ohr: „Es ist jetzt ganz schlecht, ich habe Besuch. Ich komme später bei

Er drehte Sicherunge­n raus, versteckte fremde Schuhe

Die Nachbarin fragte sich: Was will der jetzt von mir?

dir vorbei.“Herr J. nickte und klingelte nie wieder bei Mestan.

Mestan raucht und weint, aber die Bilder des toten Mannes lassen sich nicht fortspülen. Als die Nachbarin aus dem zweiten Stock die Polizei rief, begannen die Beamten ihre Umfeldabkl­ärung. Als niemand wusste, was mit Herrn J. sein könnte, brachen sie dessen Wohnungstü­r auf. Mestan wurde gebeten, den Toten zu identifizi­eren. Sie erklärte sich dazu bereit, immerhin hatte sie schon viele tote Männer gesehen, gewaschen und beerdigt, „wie sich das für eine gute Türkin gehört“. Die Polizei brachte Mestan ins Schlafzimm­er, wo Herr J. auf dem Boden neben seinem Bett lag, nackt, den Arm über dem Kopf ausgestrec­kt und anders als alle anderen toten Männer, die Mestan jemals gesehen hatte, war der Bauch des Leichnams nicht aufgebläht, sondern ganz in sich zusammenge­fallen. „Aber in der Wohnung hat es nicht gerochen. Ich weiß, wie Tote riechen können.“Die Unterernäh­rung des Herrn J. war, anders als Mestan vermutete, nicht ursächlich für dessen Tod. Der Mann litt an Diabetes, nahm seine Medikament­e nicht mehr. So steht es im Bericht der Ärzte. Es handle sich um eine „natürliche Todesursac­he“.

Mestan macht sich trotzdem Vorwürfe. Sicher, sie ist Türkin, und die Deutschen sind eben die Deutschen, aber der Herr J. war ihr Nachbar, 17 Jahre lang, und so ein netter alter Mann. Da hätte man helfen müssen, sagt sie. Alle im Haus finden, er war ein so netter alter Mann. „Warum habe ich ihm nicht einfach was zum Essen gekauft? Warum bin ich nicht mit ihm zum Arzt?“Das fragt sich Mestan. „Bei uns Türken lernt man, dass man gibt, wenn man hat, auch wenn man nur wenig hat. Warum habe ich nicht mehr gegeben?“

Die Schuldgefü­hle kratzen. Und anderersei­ts: Hätte man den Tod des Herrn J. verhindern können? Nein, da ist sich Mestan sicher und die Nachbarn im Haus bestätigen ihr das. Da trage keiner eine Schuld.

Wenige Wochen nach dem Tod des alten Mannes bekommen die beiden Töchter von Mestan beinahe gleichzeit­ig ihre Kinder. Das eine Enkelkind ist eine Frühgeburt. Mestan bangt um dessen Leben. Täglich eilt sie ins Krankenhau­s und immer vorbei am Briefkaste­n des Herrn J., zu dem sie kaum zu schauen wagt. Jemand hat den Briefkaste­n inzwischen geleert und mit einem Klebestrei­fen zugeklebt.

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Ein Mehrfamili­enhaus in Neu Ulm: Erst als der Briefkaste­n von Herrn J. überquoll, fragten sich die Nachbarn, was mit dem alten Mann ist. Die Polizei brach schließlic­h seine Wohnungstü­r auf. Der Senior war bereits längere Zeit tot.
Foto: Alexander Kaya Ein Mehrfamili­enhaus in Neu Ulm: Erst als der Briefkaste­n von Herrn J. überquoll, fragten sich die Nachbarn, was mit dem alten Mann ist. Die Polizei brach schließlic­h seine Wohnungstü­r auf. Der Senior war bereits längere Zeit tot.

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