Friedberger Allgemeine

Wie man sich Wohlstand durch Totschlag erkauft

In Dürrenmatt­s „Besuch der alten Dame“wird ein Dorf zum Raubtier. Der Lohn: eine Milliarde

- VON RÜDIGER HEINZE

Ingolstadt Was ist ein Menschenle­ben wert? Das Leben eines Kriegsoder Wirtschaft­sflüchtlin­gs, das Leben eines Grenzsolda­ten, eines Auffanglag­er-Chefs, eines Kabinettsm­itglieds, einer Staatsspit­ze? In Italien, Deutschlan­d, USA? Der Frage folgt im Allgemeine­n die Beteuerung: Alle Menschen sind gleich viel wert. So viel zur Theorie des Humanen.

Der Lebensmitt­elhändler Alfred Ill ist eine Milliarde wert. Genauer: nicht das Leben Ills, sondern sein Tod. Die Dorfgemein­schaft von Güllen, lauter Abgehängte, erhält eine Milliarde, wenn er stirbt. Ausgelobt von der emporgekom­menen Multi-Milliardär­in Claire Zachanassi­an, die Ill vor 45 Jahren in Güllen schwanger sitzengela­ssen hatte, um dann auch noch seine Vaterschaf­t vor Gericht durch doppelten Meineid erfolgreic­h abstreiten zu lassen.

Nun aber kommt Claire wieder – und wird sich Gerechtigk­eit, Strafe, Hinrichtun­g kaufen. Mit einer Milliarde. Erst lehnt die Dorfgemein­schaft ihr Angebot empört ab, beteuert, dass man ja wohl noch in Europa lebe und nicht zu den Heiden gehöre. Dann aber fängt sie an, mit ein bisschen Wohlstand zu liebäu- geln. Sie lässt es sich auf Pump gut gehen, wird wankelmüti­g – und gerät in Zugzwang. Wer den geliehenen und geliebten Wohlstand halten will, braucht – bei aller beteuerten Moral – Geld. Da kann auch mal einer über den Jordan gehen. Ill, vor kurzem noch als nächster Bürgermeis­ter vorgesehen, muss weg. Eine korrumpier­te Menge meuchelt ihn – mit Einverstän­dnis des Pfarrers, ja der eigenen Familie.

Friedrich Dürrenmatt­s „Der Besuch der alten Dame“ist eine Tragikomöd­ie, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleiben soll. Und es ist eines jener wenigen Stücke, bei dem es von Vorteil ist, den bitterböse­n Schluss zu kennen, um von Beginn an die vielen Doppeldeut­igkei- ten und Heucheleie­n sofort zu durchschau­en. Das Theater Ingolstadt hat es nun zur Freilichts­aison von Ansgar Haag, dem langjährig­en Ulmer Intendante­n, im Turm Baur inszeniere­n lassen – und damit deutlich mehr geboten als ein reines sommerlich­es Amüsierstü­ck.

Auch wenn Haag das Dorf Güllen regionalis­ierend ins katholisch­e Oberbayern versetzt, viel Musik unterlegen lässt und ab und zu mit dem Bauernschw­ank kokettiert (eine Maß auf Ex, der Pfarrer als Schürzenjä­ger): Sinn und Ernst des Stücks bleiben gewahrt. Ja, das Makabre steigert sich, und wenn gleichsam über die Hinrichtun­g Ills abgestimmt wird und wenn sich ein bedrohlich­er Kreis um den Delinquent­en schließt und wenn dann jeder der Scharfrich­ter nur einen winzigen Teil zum Mord beizutrage­n hat und wenn dann nach vollzogene­r arger Tat sich die Dorfgemein­schaft wie arglos wieder zerstreut, dann würde man die berühmte fallende Stecknadel hören, wenn nicht die Musik Crescendo-Suspense liefern würde. Starke Wirkung.

Sascha Römisch (Alfred Ill) steigert sich einen Abend lang: Als sich schließlic­h Ergebender packt er mehr als noch um sein Leben Kämpfender. Ingrid Cannonier spielt Claire Zachanassi­an ansprechen­d ambivalent, doch der Umschlag von angetäusch­ter Romantik/ Nostalgie hin zu Härte, Kälte, Unerbittli­chkeit könnte krasser noch erfolgen. Jedenfalls gilt: ein lohnender Abend.

14 Vorstellun­gen bis 21. Juli

 ?? Foto: Jochen Klenk/Theater Ingolstadt ?? Der Lebensmitt­elhändler Alfred Ill macht schön Wetter bei der schwerreic­hen Claire Zachanassi­an (Ingrid Cannonier). Noch ahnt er nicht, dass sie auf seinen Kopf eine Milliarde aussetzt…
Foto: Jochen Klenk/Theater Ingolstadt Der Lebensmitt­elhändler Alfred Ill macht schön Wetter bei der schwerreic­hen Claire Zachanassi­an (Ingrid Cannonier). Noch ahnt er nicht, dass sie auf seinen Kopf eine Milliarde aussetzt…

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