Friedberger Allgemeine

Ein Kunstwerk lässt Deutschlan­d hoffen

Toni Kroos rettet den Weltmeiste­r in der 95. Minute mit einem Traumtor vor dem höchstwahr­scheinlich­en WM-K.o. Dass er selbst die DFB-Elf zuvor an den Abgrund befördert hat, passt zu diesem Nervenkrim­i

- VON TILMANN MEHL

Sotschi Kommunikat­ion ist das Wichtigste. Was Führungspe­rsönlichke­iten der freien Wirtschaft in teuren Fortbildun­gskursen hart erlernen müssen, eignen sich Fußballer ganz automatisc­h im Verlauf der Jahre an. Toni Kroos beispielsw­eise beherrscht sogar die Kunst, sich nicht nur verbal seinen Mitspieler­n mitzuteile­n, sondern auch seine Pässe reden zu lassen. Kein Zuspiel ohne Botschaft. Sie können Sicherheit vermitteln oder das Anliegen, nun doch mal das Spiel schnell zu machen. Manchmal aber greift selbst Kroos auf normale Spracharbe­it zurück.

Zusammen mit Marco Reus analysiert­e er diese letzte Chance gegen Schweden, die sich der deutschen Mannschaft bot. Linker Flügel, schwierige­r Winkel. „Dann wollte Marco zuerst direkt schießen. Ich hab ihm gesagt: Da bin ich nicht überzeugt von. Dann haben wir uns für den Weg entschiede­n.“Dieser Weg war kein leichter. Kroos tippte an, Reus stoppte, Kroos schoss und kurz darauf senkte sich der Ball über Schwedens Torwart Robin Olsen hinweg ins Tor.

Weil es der Treffer zum 2:1-Sieg war, weil die Deutschen das frühe Turnier-Aus gerade noch mal so verhindert haben und weil sie sich etlichen Widrigkeit­en entgegenzu­stellen hatten, fiel der Jubel entspreche­nd emotional aus.

Die Mannschaft hatte sich in einem Spiel durchgeset­zt, das sich trotz guter Leistung und enormem Willen lange Zeit nicht auf die Seite der Löw-Elf schlagen wollte. Der Bundestrai­ner hatte mit vier Spielerwec­hseln auf die Niederlage gegen Mexiko reagiert. Für den angeschlag­enen Mats Hummels spielte etwas überrasche­nd Antonio Rüdiger, der wiedergene­sene Jonas Hector ersetzte Marvin Plattenhar­dt. Mit Mesut Özil und Sami Khedira zwei Eckpfeiler seines Teams von ihren Aufgaben zu entbinden, widersprac­h Löws bisheriger Strategie des bedingungs­losen Vertrauens.

Statt der beiden durften Sebastian Rudy und Marco Reus von Beginn an spielen. Dass es das Schicksal an diesem Abend in Sotschi den Deutschen nicht allzu leicht machen sollte, zeigte sich erstmals in der 24. Minute, als Rudy ein schwedisch­er Fuß unbeabsich­tigt im Gesicht traf. Das Resultat: Nasenbeinb­ruch. Rudy wollte trotzdem weiter machen, die Blutung aber ließ sich nicht stillen und nach sieben langen Minuten entschloss sich Löw dann doch, Ilkay Gündogan für den Münchner einzuwechs­eln. Somit konnte er aus der Nähe sehen, wie Kommunikat­ion auch misslingen kann.

Ein Pass von Kroos sollte Gündogan Ruhe im Mittelfeld vermitteln. Weil der Ball aber in den Füßen von Marcus Berg landete, war es nicht gut um die Ruhe in der deutschen Defensive bestellt. Am Ende des Angriffs lupfte Ola Toivonen den Ball über Manuel Neuer ins Tor (32.). „Das Tor geht auf meine Kappe. Aber wenn man 400 Ballkontak­te hat, sind auch mal zwei Fehlpässe dabei“, sagte Kroos angesäuert nach dem Spiel. Nach dem Fauxpas stand er vor einer wichtigen Entscheidu­ng. „Die eine Möglichkei­t: So ein Fehler macht dein Spiel kaputt. Oder: Du versuchst, alles reinzuhaue­n und anzutreibe­n, und das habe ich in der zweiten Halbzeit versucht.“Die Deutschen waren zu diesem Zeitpunkt ausgeschie­den.

Ehe sie sich aber einen weiteren späten Sieg an ihr Revers heften durften, mussten sie weitere Ärgernisse überwinden. Dem frühen Ausgleich durch Reus (48.) folgten etli- che vergebene Chancen und eine Gelb-Rote Karte für Jérôme Boateng (82.). Weil die Mannschaft aber auch weiterhin ihr Glück in der Offensive suchte, wurde die letzte Wendung durch Kroos zwar spät eingeleite­t, keinesfall­s aber war sie unverdient.

Sollte die deutsche Mannschaft nun am Mittwoch in Kasan gegen Südkorea mit zwei Toren Abstand gewinnen, ist ihr das Achtelfina­le nicht mehr zu nehmen. Ein anderes Ergebnis könnte Rechenarbe­it bedingen, wäre das Team doch dann auch vom Ausgang des Parallelsp­iels Mexiko gegen Schweden abhängig.

Kroos aber hat ohnehin den Eindruck, der Erfolg werde ihm und dem Team von vielen Journalist­en und Experten nicht gegönnt. An sie gewandt sagte er: „Von allen, die schreiben, die unsere Körperspra­che kritisiere­n und so, hilft uns keiner. Uns schreibt keiner zum Titel, das müssen wir alles selbst machen. Wir wissen, dass wir viele Fans auch zu Hause auf den Fanmeilen und vor dem Fernseher hinter uns haben. Aber mehr Hilfe gibt es nicht. Den Rest müssen wir selbst machen.“Das wiederum mag stark geklungen haben, ist jedoch eine Selbstvers­tändlichke­it. Zumindest ist nicht bekannt, dass sich Mannschaft­en aufgrund medialer Unterstütz­ung einen Titel sichern konnten. Die Deutschlan­d Neuer (32/78) – Kimmich (23/31), Boateng (alle Bayern/29/73), Rüdiger (Chelsea/25/25), Hector (Köln/28/39 – 87. Brandt (Leverku sen/22/18)) – Rudy (Bayern/28/26 – 31. Gündogan (ManCity/27/27)), Kroos (Real Madrid/28/85) – Müller (Bayern/28/93), Reus (Dortmund/29/33), Draxler (Paris Saint Germain/24/46 – 46. Mar. Gomez (Stuttgart/32/77)) – Werner (Leip zig/22/16)

Schweden Olsen (FC Kopenhagen/28/20) – Lustig (Celtic Glasgow/31/68), Lindelöf (Manchester United/23/22), Granqvist (Krasnodar/33/74), Augustinss­on (Bre men/24/17) – Claesson (Krasnodar/26/24 – 74. Durmaz (FC Toulouse/29/46)), Lars son (Hull City/33/102), Ekdal (Hamburger SV/28/36), Forsberg (Leipzig/26/38) – Toivonen (Toulouse/31/61 – 78. Guidetti (CD Alaves/26/21)), Berg (Al Ain FC/31/59 – 90. Thelin (KVRS Waasland Beveren/25/22))

Schiedsric­hter Marciniak (Polen) – Zu schauer 44287 Tore 0:1 Toivonen (32.), 1:1 Reus (48.), 2:1 Kroos (90.+5) Gelb Rot: Boateng (82./wiederholt­es Foulspiel)

„Das Tor geht auf meine Kappe. Aber wenn man 400 Ballkontak­te hat, sind auch mal zwei Fehlpässe dabei.“Toni Kroos, dessen Fehlpass zum 0:1 geführt hat.

Hinweis Die Einzelkrit­ik, Pressestim­men, sowie Reaktionen der Schweden auf unge bührlichen deutschen Jubel lesen Sie auf der übernächst­en Sportseite. Deutschen immerhin haben die Chance, weiter um jenen Titel zu spielen. Und das ist eine Botschaft an all die anderen Mannschaft­en.

 ?? Foto: Tim Groothuis, dpa ?? Schwedens Torhüter Robin Olsen kann dem Ball nur noch hinterscha­uen, den Toni Kroos in der 95. Spielminut­e zum 2:1 für die deutsche Mannschaft in den Torwinkel befördert hat.
Foto: Tim Groothuis, dpa Schwedens Torhüter Robin Olsen kann dem Ball nur noch hinterscha­uen, den Toni Kroos in der 95. Spielminut­e zum 2:1 für die deutsche Mannschaft in den Torwinkel befördert hat.

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