Friedberger Allgemeine

Intellekt siegt über Zwerchfell

Im Sensemble-Sommerthea­ter heißt es am Jakoberwal­lturm „Herz über Kopf 2.0“

- VON CLAUDIA KNIESS

„Herz über Kopf 2.0“heißt die aktuelle Sommerthea­ter-Produktion des Sensemble-Theaters. Es waren nicht nur Gefühle, die bei der Premiere am Jakoberwal­lturm kopf standen. Da war das Wetter: Sommerthea­ter in Daunenjack­en und mit Decken. Obwohl die Vorstellun­g ausverkauf­t war, gab es dann auch einige leere Sitze: Fußballfan­s, die fürchteten, Schweden könnte Deutschlan­d aus dem Turnier kicken. Ebenfalls durcheinan­dergewürfe­lt ist der Theaterrau­m: Die Sitze stehen da, wo sonst die Bühne war, und auf den Rängen wird gespielt. Multigeome­trische Sitzbankun­d Buchregal-Elemente von Architektu­r-Studenten der Hochschule Augsburg verbinden beide Räume und stellen eine öffentlich­e Bücherecke dar, ausgestatt­et mit Lektüre aller Art.

Drei Frauen schmökern und rufen Heldinnen der Weltlitera­tur als Referenz ihrer jeweiligen emotionale­n Perspektiv­e auf: Madame Bovary, Sibyl Vane, Mirandolin­a und zeitgenöss­ische Protagonis­tinnen aus Werken von Gérald Sibleyras und Nino Haratischw­ili. In Anlehnung an die erste Sommerthea­terProdukt­ion vor 20 Jahren, die damals „Herz oder Kopf“hieß, hat Regisseuri­n Gianna Formicone mit „Herz über Kopf 2.0“eine Collage weiblicher Ansichten über die Liebe erarbeitet. Neben literarisc­hen Szenen sind es Aphorismen oder Bonmots, mit denen die drei argumentie­ren: Karoline von Günderrode versus Rilke versus Queen Victoria.

Schnell sind die Rollenvert­eilungen klar: Sibylle (Kerstin Becke) gibt die Romantisch-Naive, Violetta (Daniela Nering) die AbgeklärtE­rnüchterte, die trotzdem Spaß an Verführung hat. Emma (Lisa Fertner) kommt lange nicht aus dem Klischee des leicht dümmlichen Backfischs heraus, egal wie sehr sie zwischen den Polen, die die anderen setzen, schwankt. Auch Becke schwankt zeitweise unschlüssi­g zwischen komödianti­scher und ernsthafte­r Spielart ihrer Figuren.

Aber: „Der Charakter einer Frau zeigt sich nicht, wo die Liebe beginnt, sondern wo sie endet,“zitieren die drei Rosa Luxemburg. So ist es auch mit der Inszenieru­ng. Deren Qualität zeigt sich, je weiter der Theaterabe­nd voranschre­itet, denn desto besser kommen die Darsteller­innen in’s Spiel. Höhepunkt ist die Szene zwischen Sibyl Vane (Fert- ner) und Dorian Gray – den Nering derart gut als androgyn-kokettiere­nden Dandy spielt, dass spätestes jetzt niemand mehr männliche Konterpart­s vermisst. Auch Fertner kommt in ein anderes Spiel, die verletzend für ihre Liebe kritisiert­e und in den Selbstmord getriebene Sybil nimmt man ihr ab. Ebenso wie Becke den solo gespielten Dialog aus Arthur Millers „Letztem Yankee“zwischen Patricia und Leroy, aus dem sie fesselnd alle Frustratio­n herausholt. Was soll man davon halten, dass die bösen, die tragischen, die enttäuscht­en Lieben interessan­ter zu spielen sind als die süßen? „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“Bevor die drei mehr sagen können, endet der Abend und das Publikum bleibt mit viel Futter für den eigenen Kopf und das eigene Herz zurück.

Ein bisschen kopflastig war das alles: Intellekt siegt über Zwerchfell. Wer mit der Erwartungs­haltung von „Gatte gegrillt“oder „Kunst“auf die Freilichtb­ühne am Jakoberwal­lturm kommt, mag enttäuscht werden. Besser als das Schauspiel auf den Straßen nach dem Fußballspi­el war es aber: dort nur hupende Fußball-trunkene Fans.

Termine am 6., 7., 13., 14., 20., 21. Juli, 2., 3. und 4. August

 ?? Foto: Wolfgang Diekamp ?? Drei Frauen in „Herz über Kopf“: von links Kerstin Becke, Daniela Nering und Lisa Fertner.
Foto: Wolfgang Diekamp Drei Frauen in „Herz über Kopf“: von links Kerstin Becke, Daniela Nering und Lisa Fertner.

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