Russland zwischen Trauer und Stolz
Im Eishockeyland hat der Fußball viele Anhänger gewonnen. „Das ganze Land ist verliebt in uns“, sagt Trainer Tschertschessow nach dem verlorenen Elfmeterschießen
Moskau Seine Tränen rühren Millionen von Russen zu Tränen. Das Spiel ist verloren, Russlands Sbornaja ist raus aus der WM, und Artjom Dsjuba, der Stürmer, der in nahezu jedem Spiel der Russen ein Tor schoss, soll auf die Fragen des Reporters nach der Niederlage gegen Kroatien in Sotschi antworten. Er kommt nicht weit. „Wir sind eine große Familie geworden. Wir wollten eigentlich nur, dass man stolz ist auf uns, auf den Fußball“, sagt er, stockend, weinend.
Es ist eine Szene, in der sich eine unermessliche Freude mit einer großen Enttäuschung mischt. Eine Szene, die allerdings auch erklärt, warum die Trauer der Russen über das WM-Ausscheiden ihrer Mannschaft im eigenen Land nur sehr kurz währt. „Schade“, sagen sie und strömen hinaus auf die Straßen der Großstädte, feiern – sich und den Fußball, als wären sie wieder eine Runde weiter. In der Moskauer Metro ist es genauso laut und bunt wie es nach jedem Gewinn der Russen zuvor war, die Nikolskaja Straße unweit des Roten Platzes, die die Fans von Beginn der Spiele an zur Fußball-Märchenwelt erklärt hatten, ist genauso voll, wie sie in den vergangenen Tagen stets war. „Ihr seid unsere Helden. Danke“, schreien die Fans, schreiben die Zeitungen, selbst die russische Suchmaschine Yandex zeigt sich noch am darauffolgenden Tag mit dem Hashtag „Danke für den Kampf“unter einem Bild der Sbornaja. „Ganz Russland atmet Fußball“, heißt es bei der Zeitung
In der Tat: Der Fußball ist im Eishockeyland Russland mit voller Wucht angekommen. Selbst die Uninteressiertesten sprechen nach mehr als drei Wochen WM immer wieder von den Spielen und der Freude, die das Land – zumindest die wenigen konzentrierten Punkte – erfasst hat.
Kaum jemand hatte so einen Wandel erwartet. Noch wenige Minuten vor dem ersten Anpfiff hatten sich die Russen selbst noch lustig gemacht über ihre Fußballer. „Ach die, die kommen nicht weit“, sagten sie mit einer Gleichgültigkeit, die sie der WM im Vorfeld entgegenbrachten.
Dann aber gewann die Sbornaja gegen Saudi-Arabien, gewann gegen Ägypten, auch gegen Spanien. Die Freude wuchs, der Stolz ebenfalls, zuweilen samt fragwürdigen Sprüchen, die bizarre Vergleiche zum Zweiten Weltkrieg offenlegten. Die Russen lernten „in der Öffentlichkeit zu feiern“, wie sie sagten. Sie verwandelten zusammen mit den ausländischen Fans die Zentren der Austragungsorte in Partymeilen, brachten selbst Polizisten zum Lächeln und freuten sich darüber, endlich einmal nicht mit negativen Schlagzeilen im Zentrum internationaler Aufmerksamkeit zu stehen. „Das ganze Land ist verliebt in uns“, sagte der russische Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow nach dem nervenaufreibenden K.o.-Spiel gegen die Kroaten. Artjom Dsjuba, der von seinen Gefühlen überwältigte Stürmer, kann sich eines gewiss sein: Die Russen sind nun stolz auf ihre Mannschaft und auch auf den Fußball.