Friedberger Allgemeine

Der vermessene Radler

Man setzt sich drauf und fährt los. Wie romantisch. Heute wird auf dem Fahrrad gezählt, gemessen und aufgezeich­net

- VON MARCUS BÜRZLE

Hatten Sie auch so ein Ding? Mein erster Fahrrad-Tacho war so ein mechanisch­es Teil. Man schraubte unten an die Nabe eine Scheibe, nach oben ging ein Kabel und am Lenker hing ein klobiges Teil. Es hatte einen Zeiger für die Geschwindi­gkeit und einen Zähler für die Kilometer. 30 Sachen! 35! Ja!!! Wahrschein­lich hat die Mechanik zwar mehr gebremst als so manche Bremse, aber wir hatten endlich Renngefühl­e. Damals. Heute klingt das nach einem Witz.

2018 hat wahrschein­lich ein mittelmäßi­ger Radcompute­r oder eine Fitnessuhr mehr Rechenleis­tung als unser Stolz der 80er, der Commodore C 64. Für Jüngere: Das war ein Computer, der seine Daten manchmal noch von Kassetten bezog. Was waren Kassetten? Egal, heute jedenfalls wird auch die Welt des Fahrrads vermessen, aufgezeich­net und getrackt. Beispiel gefällig? Viele von uns lösen jeden Tag mindestens einen Impuls aus, der sich dann zum großen Ganzen zusammenfü­gt. An drei Stellen in Augsburg zählt die Stadt die Fahrräder: Konrad-Adenauer-Allee, Ulrichsbrü­cke und nahe der CityGaleri­e. Seit Januar waren an diesen drei Orten schon mehr als 1,1 Millionen Fahrräder unterwegs. Die meisten fahren in der AdenauerAl­lee über die unsichtbar­e Messschlei­fe, mehr als eine halbe Million: Täglich im Schnitt rund 2500 – am eisigen Wintertag natürlich ein paar weniger als am 21. Juni 2018, als 5154 Radler (Rekord!) in Richtung Königsplat­z oder TheodorHeu­ss-Platz unterwegs waren. Ist das viel? Eine Verkehrszä­hlung vor ein paar Jahren ergab, dass in der Adenauer-Allee und der Schießgrab­enstraße täglich knapp 12 000 Autos fahren. Das sind nur noch halb so viele wie vor dem Umbau des Königsplat­zes. Ein Teil fährt nun anderswo, aber ein anderer ist – so hoffen wir einfach mal – auch auf das Rad umgestiege­n. 2500 Radler klingt nicht übel – und sie sind deutlich angenehmer für Ohren und Lungen als die gleiche Zahl an Autos. Die Messpunkte sind keine Spielerei. Sie sollen zeigen, wo

wie viele Radfahrer un- terwegs sind und ein Zeichen setzen: Wir sind keine kleine Minderheit. Von wegen.

Mehr als 2000 Augsburger setzen derzeit noch ein zweites Zeichen. Im Stadtradel­n schreiben sie jeden Fahrradkil­ometer auf. Bis Mittwoch waren es fast 390 000 – ich wünsche mir, dass die Zahl jetzt schon veraltet ist. Jeder kann noch mitmachen (stadtradel­n.de/augsburg) und ein Zeichen setzen. Es wird gesehen. Beispiel gefällig? Die Fahrradstr­aße in Pfersee erhält nun doch Vorfahrt. Hut ab – das ist eine Einladung zum munteren Weiterrade­ln und digitalen Kilometers­ammeln.

Heute zählt der Radtacho jeden Meter geräuschlo­s. Die Sportuhr merkt sich jede Kurve und vergisst keinen Herzschlag. Manchmal schreibt sie frech: Trainieren Sie heute noch zehn Minuten... Und die Zukunft heißt Vernetzung. Räder, die mitteilen, wann die Bremsen abgefahren sind, die im Notfall Hilfe rufen und jeden Muckser dokumentie­ren. Spannend. Ja. Und nein. Manchmal denke ich an das leicht schabende Geräusch des ersten Tachos zurück. Ohne Batterie und Bluetooth. Einfach nur Freiheit auf zwei Rädern. Vorbei? Nein. Tacho weg, Uhr weg, Handy weg. Draufsitze­n, losfahren, genießen.

Marcus Bürzle, 42, kam durch Zufall zum Fahrrad und sitzt inzwischen praktisch täglich drauf.

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Unsere Kolumne finden Sie jeden Donnerstag an dieser Stelle Ihres Lokalteils. Nächste Woche: „Mein Augsburg“mit typisch Augsburger­ischen Ansichten und Geschichte­n.

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Fotos: pro2audio/stock.adobe.com, Silvio Wyszengrad, mb
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