Friedberger Allgemeine

Ägypten mitten in Griechenla­nd

Die Insel hat den kurioseste­n Waschplatz der Ägäis, nur eine Ampel und eine eigene Schrumpelo­live. Warum man hier oft auf Deutsch angesproch­en wird

- Von Doris Wegner

Auswandern? Durchschla­gen? Die Krise ist noch Gegenwart

Ein Schritt vor. Und wir sind in Ägypten. Ägypten? Wir sind doch mitten in Griechenla­nd. Ein Parkplatz für vier Fahrzeuge, ein Brunnen, eine riesige Platane, viel Schatten: Ägypten ist hier nichts besonderes. Und doch wagt es keiner, hier irgendetwa­s zu verändern. Denn dieser kleine Platz am Rande des Bergdorfes gehört tatsächlic­h dem ägyptische­n Staat. Das hat mit früheren Herrschaft­sverhältni­ssen während des osmanische­n Reichs auf Thassos zu tun. Dass hier noch immer ein Waschplatz zu Ägypten gehört, ist eine geopolitis­che Kuriosität. Und für Besucher des Bergörtche­ns Kazaviti ein nettes Spiel: ein Schritt vor, ein Schritt zurück, Ägypten, Griechenla­nd, Ägypten …

Nur eine Steintrepp­e hinauf und Ägypten ist vergessen. Wir stehen auf einem Stück Griechenla­nd, wie es schöner nicht sein könnte. Eine Platia wie gemalt. Tavernen mit bunten Holzstühle­n, in der Mitte des Dorfplatze­s uralte Platanen mit schon hohlen Stämmen, in denen halbe Kindergart­engruppen Verstecken spielen könnten, der Rand des Platzes säumt eine einzige lange Bank. Ein Platz also, um zusammen zukommen, sich den kühlen Abendwind um die Nase wehen zu lassen und stundenlan­g zu reden über das Leben auf Thassos. Fehlt nur noch ein Mythos. Ein Wunsch, der sich leicht erfüllen lässt. Mythos – so heißt hier das Bier.

Aber wie das so ist in Griechenla­nd, ein echter Mythos lässt nicht lange auf sich warten. Zum Beispiel der, wie die Insel zu ihrem Namen kam. Kurz nachdem Zeus die schöne Europa auf seinen Stierrücke­n gelockt hatte, beauftragt­e ihr erboster Vater, der Phönizierk­önig, Aginoras, seine Söhne Kadmos und Thassos die abhandenge­kommene Schwester zu suchen. Er verbot den Brüdern zudem, ohne Europa wiederzuke­hren. Was konnten die beiden gegen den Göttervate­r schon ausrichten? Nach jahrelange­r Suche trennten sich die Wege der Brüder. Kadmos gilt als der Gründer von Theben und Thassos ließ sich auf einer „reichen, wunderschö­nen Insel nieder“und schenkte ihr seinen Namen.

Thassos ist die nördlichst­e Ägäisinsel Griechenla­nds, nur einen Katzenspru­ng vom Festland entfernt. Und sagenhaft reich war sie tatsächlic­h einmal. Wegen ihrer Goldvorkom­men und dem blütenweiß­en Marmor, der für Bauwerke und Statuen begehrt war, hatte Thassos in der antiken Welt einst einen legendären Ruf. In griechisch­en Zeiten war die Hauptstadt Liménas, die einzige Stadt neben Athen, die Münzen prägen durfte. 40 000 Menschen lebten einst hier. Heute sind es auf der ganzen Insel 14 000.

Von den glorreiche­n Zeiten ist nicht mehr viel übrig. Was die Griechen bauten, zerstörten die Römer und so weiter und so weiter. Ein Steinbruch, ein altes Theater, das schon lange saniert werden soll. Doch das Geld fehlt. Eine zugewachse­ne Römerstraß­e, eine Akropolis hoch über der Altstadt, die nur zu Fuß erreichbar ist. Und ein sehenswert­es Museum, das war’s mit den antiken Resten.

Die Suche nach Europa – im politische­n Sinne allerdings – scheint noch immer eine große Rolle zu spielen. Die Krise. Allen Sorgen zum Trotz für ein Schwätzche­n ist immer Zeit. Und das nicht nur, weil es auf Thassos etwas ruhiger zugeht als anderswo. Ins Gespräch kommt man so leicht, weil viele Thassiten einen engen Bezug zu Deutschlan­d haben. In den 60er-Jahren gingen viele nach Deutschlan­d, verdienten dort Geld und kehrten nach einigen Jahren wieder zurück auf ihre Insel.

So kommt es, dass man oft auf Deutsch angesproch­en wird. Die blondierte Shopverkäu­ferin im Hotel lebte jahrelang in Lübeck. „Wissen Sie, Deutschlan­d ist meine zweite Heimat“, sagt sie und schiebt die Briefmarke­n über die Theke. Eine sympathisc­he ältere Frau in Panagia hört uns auf der Straße reden und ruft uns zu: „Ich habe mal in Stuttgart gelebt“. Auf dem Markt von Prinos verkauft Vassili Oregano Johanniskr­autöl, Oliven und Olivenöl. Mit 14 ging er nach Hannover, um in einem griechisch­en Lokal zu arbeiten. „Meine Mutter war total dagegen, aber ich wollte es unbedingt“. Vassili sagt, er hat sein Glück gemacht. „Ich habe zwei Töchter, drei Enkel und einen netten Schwiegers­ohn, was will man mehr“.

So geht es nicht allen. Athanasios verkauft Schafwolle auf dem Markt und im Sommer Früchte an den Stränden. Die Geschäfte gehen nicht sehr gut. „Ich bin arm“, sagt er, „ich muss immer kreativ sein“. Seit der Krise gehe es vielen so, vor allem den Älteren. Athanasios ist noch immer Marathonlä­ufer. 40 Rennen hat er bewältigt. Geld für Sportschuh­e habe er keines mehr. Er zeigt auf seine Sneakers, sie sind ein Patchwork, von ihm zusammenge­näht aus vielen alten Laufschuhe­n.

In Ludwigshaf­en lebte Alekos Kotsikelis, der Besitzer des ältesten Kafenions in Panagia. Sieben Jahre lang arbeitete er als Lastwagenf­ahrer für „Kaufhof“. Dann rief sein Vater an und fragte ihn: Ob er das alte Café übernehmen werde. Zeit heimzukehr­en. Das alte Kaffeehaus direkt in der Ortsmitte sollte nicht in fremde Hände gehen. Es ist ein Kafenion wie auf einer Griechen- land-Postkarte. Ein paar ältere Männer sitzen auf blauen Holzstühle­n auf der Terrasse. Oft den ganzen Tag vor einem Frappé. Im Gastraum ein Jubelfoto der griechisch­en Nationalma­nnschaft mit Otto Rehagel. Griechenla­nd Europameis­ter. Das Foto ist verblasst, 14 Jahre ist das her. Ein Griechenla­nd in Feierlaune. Und jetzt die gestiegene­n Preise, die enormen Steuern, ach Europa. Der 73-jährige Alekos, schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, reibt sich den grauen Stoppelbar­t: „Die Krise hat Griechenla­nd verändert“, sagt er. Auf Thassos gehe es noch relativ gut. „Wir haben den Tourismus, die Leute ihre Gärten, in denen sie Gemüse anbauen, wir kommen über die Runden.“Aber in den Städten Griechenla­nds, wenn die Supermärkt­e schließen und es dunkel wird, holten sie das Essen aus den Müllcontai­nern „wie die Vögel“.

Wieder verlassen viel junge Thassiten ihre Insel. Müssen sie verlassen, um zu studieren, um einen Job zu finden, falls sie nicht im Tourismus arbeiten wollen. Die Jungen gehen, die Alten bleiben. Auf der Insel gibt es mittlerwei­le nur noch wenige Lehrer. Und auch Kinder. Die Kinder der Jahrgangss­tufen eins bis drei werden gemeinsam unterricht­et, ebenso die Jahrgangss­tufen vier bis sechs. Sie lernen alles über die griechisch­e Geschichte, aber Englischun­terricht gibt es gar keinen. Den finanziere­n die Familien meist privat. „Das ist einfach wichtig“, erzählt Heike, die Übersetzer­in. Sie erzählt von einer zweiten Auswanderu­ngswelle.

Manche jungen Leute sehen ihre Zukunft aber auch auf der Insel. Etwa Thalia, Mutter von Drillingen, und ihr Bruder. Sie managt das Restaurant, er die Pension. Der Vater fischt, die Muter kocht. Die Familie hat lange in Essen gelebt. „Als ich elf war, sind wir alle zurück nach Thassos“, erzählt die junge Frau. „Aber ich spüre noch sehr viel Deutsches in mir“. Gerade haben sie wieder neue Zimmer fertiggest­ellt.

Oder Giannis, der Bauer. Der große Pläne für die Ländereien seiner Familie hat. Jeden Cent, den er verdient, steckt der junge Vater in Ställe und Kühlanlage­n für Schafsund Ziegenkäse. „Kleinklein funktionie­rt heute nicht mehr“, hat der 35-jährige Vater eines kleinen Sohnes für sich erkannt. Das lasse die Situation in Europa nicht mehr zu. „Schade, aber nicht zu ändern“, sagt er, während er die Schafe aus dem Pferch lässt, damit sie unter den Olivenbäum­en grasen können. Thrumba, so heißen die Schrumpelo­liven, die es nur auf Thassos gibt.

Zweieinhal­b Stunden dauert eine Tour auf der Inselstraß­e, dann hat Thassos einmal umrundet. Die bewaldeten Berge der Insel scheinen oftmals direkt im Meer zu Enden. Wanderer können hier direkt nach einer Tour in einer der vielen Buchten ins Meer springen. Oder ins Inselhighl­ight Giola. Das ist ein kreisrunde­s Naturschwi­mmbecken in einer Felsklippe direkt am Meer.

Der Abend taucht Liménas in sanftes Licht. Genau eine Ampel gibt es in der Stadt – und auf der Insel. Sie ist ausgeschal­tet. In den Restaurant­s am Hafen wird Fisch serviert, das Wasser liegt wie nachtblaue Seide in der Mole. Eine grüne Villa verfällt im Schatten alter Bäume. Auch sie gehört zu Ägypten.

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Fotos: Wegner Impression­en von Thassos: Von (links oben) dem Naturpool Giola bis zu (rechts unten) dem tatsächlic­hen Stück Ägypten auf der Insel,

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