Friedberger Allgemeine

Adios Sozialismu­s

Lateinamer­ika galt als Vorzeige-Region für eine neue linke Politik. Dann scheiterte­n die Regierunge­n reihenweis­e. In Venezuela und Nicaragua zeigt sich gerade, warum

- VON STEPHANIE LORENZ

Augsburg Aufstände, Tote und Soldaten überall. Menschen fliehen, Nicaragua versinkt im Chaos. Gewaltsam geht der Präsident gegen das eigene Volk vor. Dann, endlich, fasst die Organisati­on Amerikanis­cher Staaten in Washington einen Beschluss: Das Regime soll abgelöst werden, die Menschenre­chte sollen geachtet werden und freie Wahlen stattfinde­n. Es ist der 23. Juni 1979. Knapp drei Wochen später flieht der damalige Präsident Nicaraguas, Diktator Anastasio Somoza, nach Florida. Er hatte das Volk brutal unterdrück­t. Die Macht übernimmt eine fünfköpfig­e Übergangsr­egierung. Die herausrage­nde Figur ist ein 33-Jähriger: Daniel Ortega.

Sommer 2018: Hunderte Menschen kommen bei Protesten in Nicaragua ums Leben. Zehntausen­de haben das Land verlassen. Die meisten Richtung Costa Rica. Sie fliehen vor Gewalt, Unterdrück­ung und Chaos. Sie fliehen vor Daniel Ortega. Dem autoritäre­n Präsidente­n.

Der hatte das Land bereits von 1985 bis 1990 als Präsident regiert, seine Wiederwahl scheiterte an einer starken Opposition. 2006 kam er zurück und wurde zu einem der vielen linken Hoffnungst­räger in Lateinamer­ika. Er reiht sich ein in eine Liste linker Staatsober­häupter, die zu Beginn des Jahrtausen­ds gewählt wurden. Darunter Brasiliens Luiz Inácio Lula da Silva (Präsidents­chaft 2003 bis 2011), Néstor Kirchner (2003 bis 2007) und seine Frau Cristina (bis 2015) in Argentinie­n, Ricardo Lagos (2000 bis 2006) in Chile oder Hugo Chávez in Venezuela (1999 bis 2013), der den „Sozialismu­s des 21. Jahrhunder­ts“ausrief.

So unterschie­dlich die Politiker und die Ursachen ihrer Wahlerfolg­e waren, sie alle schürten die Hoffnung der Menschen auf eine gerechtere Welt und umfassende Sozialrefo­rmen. Viele Lateinamer­ikaner hatten die Privatisie­rungen der 1980er und 90er Jahre satt. Sie litten unter Armut in rohstoffre­ichen Regionen.

Tatsächlic­h stiegen viele dank neuer Regierungs­programme in die Mittelschi­cht auf: Der Rohstoffha­ndel boomte und endlich wurde die Bevölkerun­g daran beteiligt. Chávez, zum Beispiel, verteilte in Venezuela Ölgewinne an sein Volk. Doch dann war der Boom vorbei. Und die Weltfinanz­krise kam. Was Anfang der 2000er Jahre vielverspr­echend begann, stürzte viele sozialisti­sche Länder in politische und wirtschaft­liche Krisen.

Es folgten Massenprot­este: 2012 gegen Cristina Kirchner in Argenti- nien, 2015 in Brasilien gegen die damalige Präsidenti­n Dilma Rousseff. Zurzeit gegen Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro in Venezuela und Ortega in Nicaragua. Woran sind die linken Politiker gescheiter­t?

In erster Linie an sich selbst, sagt Günther Maihold, stellvertr­etender Direktor der Stiftung Wissenscha­ft und Politik. Daran, die eigenen Möglichkei­ten überschätz­t zu haben. Man habe die Export-Einnahmen aus dem boomenden Rohstoffha­ndel nicht langfristi­g angelegt, sondern schnell verbraucht. Jetzt komme man über die Phase niedriger Rohstoffpr­eise nicht hinüber. Nur Chile habe einen Zukunftsfo­nds eingericht­et. Vielfach aber wirtschaft­eten Präsidente­n in die eigene Tasche. Die Mittelschi­cht droht nun wieder in die Armut abzurutsch­en.

In vielen rohstoffre­ichen Ländern gehe das Problem auf die Kolonial- zeit zurück, sagt Sabine Kurtenbach, Lateinamer­ika-Expertin beim German Institute of Global and Area Studies. Rohstoffe würden exportiert und woanders verarbeite­t, nichts bleibe im Land. Das schaffe Abhängigke­it von Weltmarktp­reisen und kaum Arbeitsplä­tze. Sie spricht von „generation­eller Vererbung von Armut“, von Korruption und davon, dass Präsidente­n demokratis­che Spielregel­n aushebelte­n – zum Beispiel, um die eigene Amtszeit zu verlängern, wie Evo Morales in Bolivien. Oder indem sie Opposition­elle ins Gefängnis stecken, wie in Venezuela.

Das Volk protestier­t, vor allem die Jugend. Ob in Peru, Brasilien, Argentinie­n, Venezuela oder Nicaragua. Doch das Problem der Proteste sei, dass sie sich punktuell, aber alternativ­los gegen ein Thema richteten, sagt Kurtenbach. In Nica- ragua zum Beispiel fordere man den Rücktritt Ortegas, doch es gebe keinen Gegenentwu­rf. „Die Einigkeit, was danach kommen soll, fehlt“, erklärt sie. So hält sich die Familiendy­nastie Ortega (seine Frau ist Vizepräsid­entin, seine Söhne kontrollie­ren TV-Sender) wohl vorerst an der Macht. Ähnlich wie 1979 habe man die politische Opposition durch Parteienve­rbote mundtot gemacht und so eine zivile Opposition heraufbesc­hworen, sagt Maihold.

Doch ob sie stark genug ist? Der Experte sieht kurzfristi­g keine Lösung, denn wenn Ortega aufgibt, „ist die ganze Familie weg vom Fenster“. Ein nationaler Dialog zwischen Regierung, Kirche, ziviler Opposition und Unternehme­rverband scheint derzeit undenkbar.

Bislang hat sich Nicaragua mit Öl und Geldern aus Venezuela am Leben gehalten. Brechen diese Quellen weg, wird es kritisch. Auch für El Salvador, das laut Maihold über Ni-

Donald Trump macht den Ländern schwer zu schaffen

caragua mit Öl versorgt wird – und auf das 2020 eine weitere Herausford­erung zukommen könnte: US-Präsident Donald Trump hat im Januar angekündig­t, 200 000 Einwandere­r aus El Salvador heimzuschi­cken. Ein Schock für das Land, das von deren Geldüberwe­isungen lebt. Die USA seien sich nicht im Klaren darüber, was sie in kleinen Ländern anrichtete­n, sagt Maihold. Auch in Nicaragua versuchten sie es nicht diplomatis­ch: „Die USA haben wie immer nur die Sanktionsk­iste.“Ortega lässt sich bisher aber nicht unter Druck setzen, Maduro in Venezuela ebenso wenig. Die USA werden zum Feind erklärt. Dabei hätten sie den größten Hebel gegen Venezuela, sagt Kurtenbach. Sie bräuchten bloß kein Öl mehr zu kaufen.

Und Europa? Habe derzeit eigene Probleme, sagen die Lateinamer­ikaExperte­n. Die Region stehe nicht weit oben auf der politische­n Agenda. Wie geht es nun also weiter mit dem ehemals „linken“Kontinent? In Kolumbien ist mit Iván Duque seit Dienstag ein konservati­ver Politiker an der Macht. Auch Argentinie­n und Chile werden von Mauricio Macri beziehungs­weise Sebastián Piñera erzkonserv­ativ regiert. Brasilien wählt im Oktober. Kürzlich hat die linke Arbeiterpa­rtei den inhaftiert­en linken Ex-Präsidente­n Lula da Silva als Kandidaten präsentier­t. Ob er antreten darf, ist fraglich. Er sitzt eine Haftstrafe wegen Korruption ab.

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Foto: imago Der Vorgänger und sein Nachfolger: Beschützer des Volkes? Venezuelas Ex Staats chef Hugo Chávez (li.) und der amtierende Präsident Nicolás Maduro.

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