Friedberger Allgemeine

An welche Zukunft wollen wir glauben?

Düstere Szenarien bestimmen längst den Blick auf das Kommende – weil das bei all den gegenwärti­gen Gefahren realistisc­h wirkt. Das Augsburger Friedensfe­st aber fragt heute nach positiven Visionen. Denn: Utopien sind notwendig

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Foto: Silvio Wyszengrad werden wollen

Müssen wir nicht realistisc­h sein? Gerade angesichts der gigantisch­en globalen Herausford­erungen, einer Welt im Umbruch? Wozu da noch von einer güldenen Zukunft träumen? Hat denn – zufolge der an der Geschichte des Kommunismu­s gewachsene­n Weisheit – nicht noch jeder Versuch, irgendein vermeintli­ches Paradies auf Erden herzustell­en, in die Hölle geführt? Ran an die konkreten Probleme also, Finger weg von verklärend Utopischem! Einerseits.

Anderersei­ts: Setzt eine solche Haltung nicht auch die Axt direkt an den Grundfeste­n unseres Landes und der Weltgemein­schaft an? „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“, deutsches Grundgeset­z – eine Zustandsbe­schreibung ist das jedenfalls nicht. Und dann erst: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“Die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte, 70 Jahre her – wirkt deren Inhalt nicht auch im 21. Jahrhunder­t noch immer: utopisch?

Eine Utopie ist das, was der griechisch­en Wortwurzel nach keinen Ort hat, was es also nicht gibt. Noch nicht? Augsburg aber versucht sich im Programm zum heutigen Großen Friedensfe­st seit Wochen darin, zumindest ein Ort für ein neues Befragen der Utopie zu sein. War der Religionsf­rieden von 1555, dessen gedacht wird, nicht eigentlich auch utopisch? Jedenfalls hat nun etwa ein internatio­nales Theaterpro­jekt am Fuße des ehrwürdige­n Renaissanc­e-Rathauses eine Installati­on aufgebaut, die zwei Zukunftsvi­sionen gegeneinan­derstellt: die grenzenlos­e Gesellscha­ft und die komplett geschlosse­ne Gesellscha­ft. Das Gegeneinan­der verweist auf eine der beiden Formen, in denen Utopien aktuell noch eine Rolle spielen.

Diese eine Form ist die ideologisc­he Zuspitzung der politische­n Auseinande­rsetzung. Eine Waffe. In Deutschlan­d etwa: Wie Kritiker von rechts gerade auch der Merkel-Re- gierung vorwerfen, für offene Grenzen zu stehen – und mag diese noch so sehr Deals selbst mit afrikanisc­hen Diktatoren zur Kontrolle der Migration abschließe­n –, so lautet der Vorwurf in die Gegenricht­ung eben auf die totale nationale Abschottun­g… Der jeweilige Gegner steht für die düstere Verkehrung der Utopie, den Albtraum von Zukunft, für die Dystopie. Die Mission der Guten ist, Land und Welt davor zu bewahren. Der starke Kontrast genügt, da muss noch nicht mal klar werden, in welche seligere Vergangenh­eit der Kampf gegen diese düstere Zukunft denn führen soll. Siehe USA: „Make America Great Again!“Wieder groß – wie wann?

Auch die zweite aktuelle Form der Utopie ist eine negative. 500 Jahre nach Thomas Morus’ Roman „Utopia“herrscht in Literatur und Film längst die Dystopie, aber auch in der Gesellscha­ft und ihrer Bespiegelu­ng. Wer Klima sagt, reimt Katastroph­e, wer Umwelt sagt, Zerstörung, wer Migration sagt, Krise. Und wer über die Digitalisi­erung spricht, warnt meist vor totalitäre­r Kontrolle, vor Menschende­sign, Unsterblic­hkeitswahn. Tatsächlic­h sind diese Gefahren in den technische­n Entwicklun­gen unserer Zeit ja bereits gegenwärti­g. Aber ebenso sind es doch auch Chancen wie die, Krebs und Alzheimer zu besiegen. Und die Automatisi­erung kann ja nicht nur Arbeitslos­igkeit und soziale Verwerfung­en nach sich ziehen, sondern auch eine Befreiung des Menschen. Nur: Wer außer den ja selbst profitiere­nden Apologeten des Fortschrit­ts aus dem Silicon Valley glaubt noch, der Mensch würde aus den künftig ihm zuwachsend­en Möglichkei­ten aus Verantwort­ung und Vernunft das Gute und Richtige machen?

Neue Aufklärer formieren sich. Der Philosoph Richard David Precht vertritt in seinem Bestseller „Jäger, Hirten, Kritiker“die Erkenntnis: „Die Zukunft kommt nicht, sie wird von uns gemacht! Die Frage ist nicht: Wie wir leben? Sondern: Wie wir leben?“Der Wissenscha­ftsjournal­ist Thomas Schulz skizziert im Buch „Zukunftsme­dizin“, wie der enorme Wandel durch Transparen­z beherrschb­ar sein könnte. Aber auch der Augsburger Umweltfors­cher Jens Soentgen, der in „Ökologie der Angst“zeigt, wie der Mensch aus der Erkenntnis seiner verheerend­en Wirkung auf Tier und Natur ein neues Verständni­s entwickeln kann – und muss. Eine Hoffnung auf Bewusstsei­nswandel gerade in Zeiten der sich zuspitzend­en Krise? Mut zur Utopie aus Verzweiflu­ng?

Die für heute noch gültige Antwort ist exakt 100 Jahre alt. Damals, ausgerechn­et im Sommer 1918 und nach vier alles Menschlich­e verheerend­en Kriegsjahr­en, meldete sich ein damals 33-jähriger deutscher Denker erstmals eigenständ­ig zu Wort. In „Geist der Utopie“entwickelt­e ein gewisser Ernst Bloch den Begriff der konkreten Utopie erstmals, den er nicht von ungefähr wohl während des Zweiten Weltkriegs dann im Exil zu seinem Großwerk „Prinzip Hoffnung“ausarbeite­te. Nach Bloch geht es nicht um die Schaffung eines Paradieses als politische Systemfrag­e. Sondern um die wesentlich­e Notwendigk­eit der Utopie für den Menschen. Konkret.

In unserem Schaffen bildet sich schon der Entwurf der Zukunft ab, und die weitere Entwicklun­g des Menschlich­en sucht nach Ausdruck. Die uneingelös­ten Verspreche­n der Vergangenh­eit bleiben uns so erhalten. Denn natürlich sollte die Würde des Menschen unantastba­r sein, sollten alle Menschen frei und gleich geboren werden, wollten wir in einer solchen Welt leben, wollten wir als Menschen eine solche Zukunft. Die Utopie kann uns erinnern, dass der kühle Blick auf Realitäten blind ist für Wesentlich­es am Leben: die Hoffnung. Das bedeutet hier: Glauben an den Menschen.

» Zum Weiterlese­n

Thomas Schulz: Zukunftsme­dizin. dva, 288 S., 20 ¤

Richard David Precht: Jäger, Hirten, Kritiker. Goldmann, 288 S., 20 ¤

Jens Soentgen: Ökologie der Angst. Matthes & Seitz, 160 S., 14 ¤

 ??  ?? Eine für das Augsburger Friedensfe­st durch den Künstler Guido Zimmermann Bild gewordene Vision: Versöhnung zwischen den Menschen aus aller Welt, zwischen den Generation­en, zwischen dem natürlich und dem künstliche­n Leben.
Eine für das Augsburger Friedensfe­st durch den Künstler Guido Zimmermann Bild gewordene Vision: Versöhnung zwischen den Menschen aus aller Welt, zwischen den Generation­en, zwischen dem natürlich und dem künstliche­n Leben.

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