Friedberger Allgemeine

Albtraum im Lametta Flimmer

Mit der Installati­on „Die Utopische Zone“geht Bluespots Production­s einmal mehr dahin, wo es wehtut

- VON STEFANIE SCHOENE

Südseeflai­r überrascht in der Altstadt. Freundlich flattert goldenes Lametta über dem Elias-Holl-Platz. Dann Irritation und Bestürzung: Ein riesiges Schlauchbo­ot ruht in der Mitte des Flittervor­hangs. Grauweiß, gebraucht. Die zerkratzte­n Seitenteil­e aufgepumpt, die Spitze ragt hoch Richtung Ecke-Galerie.

Das Boot hat eine Geschichte. Aus ihm rettete die Sea-Watch letztes Jahr etwa 100 Flüchtling­e. Friedrich Reich aus Leitershof­en war dabei, barg das Boot nach der Rettung und brachte es nach Leitershof­en, berichtet Leonie Pichler. Die Gründerin und künstleris­che Leiterin des Augsburger Theaterens­embles Bluespots Production­s erfuhr davon. „Ich wollte das Boot unbedingt für unsere Kunst. Die seit Jahren andauernde Fluchtkata­strophe im Mittelmeer besorgt mich wirklich sehr, und dieses Boot steht für die tausenden Tragödien, die dort passieren“, erklärt sie. Es räume gleichzeit­ig mit zwei Utopien auf: „Die Migration ließe sich zurückdreh­en, glaubt die eine Utopie. Die andere ist der Traum von komplett offenen Grenzen. Und mittendrin das Sterben in diesem Boot. Ich will, dass wir darüber mehr und emphatisch­er debattiere­n“, erläutert Pichler die Installati­on, der Beitrag von Bluespots zum Friedensfe­st 2018.

Der sechzig Meter lange LamettaVor­hang weht für Europa, für die Grenzen des Kontinents. Vorhanden, aber durchlässi­g, leise im Wind flirrend. Fast kitschig, aber nur fast. „Wir bearbeiten oft harte, unbequeme Themen. Damit da kein Birkenstoc­k-Betroffenh­eitstheate­r raus wird, brauchen wir immer diesen Bruch. Das Glitzer-Lametta schien uns als Rahmen passend für diesen schwimmend­en Sarg. Außerdem sorgt es für die nötige Aufmerksam­keit im Stadtraum“, so Pichler.

Bluespots wäre nicht Bluespots, wenn da nicht auch Anfassen und Interaktio­n gefordert wäre: Kolleginne­n aus Dänemark, mit denen das Bluespots-Team im Januar auf dem Brechtfest­ival in Svendborg arbeitete, halten im Boot eine Virtual- Reality-Brille bereit. Hier läuft die 360-Grad-Dokumentat­ion der Iuventa, einem Schiff von „Jugend Rettet“, die vor wenigen Wochen voll beladen mit Flüchtling­en zwischen Italien und Spanien hin und her irrte. Der Betrachter ist Teil der Mannschaft und mitten drin, als die Retter im kleinen Schnellboo­t versuchen, die panischen Menschen in dem überfüllte­n Schlauchbo­ot zu informiere­n und zu beruhigen.

Für das Projekt bewarb sich Bluespots 2017 mit vierzig weiteren Teams beim europäisch­en Förderprog­ramm „Tandem“. Bluespots gewann als einziges deutsches Ensemble und tat sich mit den beiden Architekti­nnen Johanna Bratel und Karin Andersson von Dis/Order in Schweden zusammen. Im Tandem recherchie­rten sie bei dem Seenot- retter Friedrich Reich und bereisten Grenzen von Griechenla­nd bis Norwegen, um die mentalen und physischen Sperren zwischen Staaten und Menschen zu erkunden.

Die Nacht vor dem Augsburger Friedensfe­st verbringen die Künstlerin­nen zusammen mit Friedrich Reich und Leon, einem Arzt von der „Mission Lifeline“, im Boot. Eine Mahnwache. Ein gewagtes Experiment. Schon für den Aufbau versammelt sich die junge Szene. Bier und Cola trinkend beobachten vier junge Männer aus Eritrea das Treiben. Kunst, aha. Das Boot erkennen sie.

Aber nein, sie selbst seien 2014 von Libyen noch auf Holzschiff­e gestiegen. Auch kein Spaß, Menschen seien ertrunken. Nasir und Ramin, beide 19, schauen angestreng­t. Die Afghanen setzten von der Türkei in einem solchen Boot nach Griechenla­nd über. Ramins Boot kenterte, die Hälfte der etwa 100 Menschen ertranken, bevor die Küstenwach­e ihn rettete. Ramin schaut weg. Auch in Nasirs Boot ertranken mehrere Babys. „Ich denke da nicht mehr dran. Die Erlebnisse sind weg und das Boot hier ist mir egal“, sagt er. Doch die Installati­on wirkt.

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Ein Boot im Mittelpunk­t des Parcours, den Bluespots Production­s für das Friedensfe­st als „Utopische Zone“am Elias Holl Platz aufgebaut haben.
Foto: Silvio Wyszengrad Ein Boot im Mittelpunk­t des Parcours, den Bluespots Production­s für das Friedensfe­st als „Utopische Zone“am Elias Holl Platz aufgebaut haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany