Friedberger Allgemeine

Mesale Tolu darf ausreisen: Freude und Frust

Die Journalist­in wird mit ihrem kleinen Sohn am Sonntag in ihrer Heimat Ulm erwartet

- VON SUSANNE GÜSTEN, BERNHARD JUNGINGER UND SEBASTIAN MAYR

Augsburg Mesale Tolu ist frei und darf ausreisen – und bleibt doch gefangen zwischen zwei Welten. 16 Monate nach ihrer Festnahme in der Türkei wurde das Ausreiseve­rbot gegen die deutsche Journalist­in aufgehoben, doch ihr Ehemann muss im Land bleiben. Tolu steht nun vor der Wahl, ihren dreijährig­en Sohn in ihre Heimatstad­t Ulm zurückzubr­ingen und vom Vater zu trennen – oder doch in Istanbul zu bleiben. Mit der Aufhebung des Ausreiseve­rbotes, das wenige Tage nach einem Telefonat von Präsident Recep Tayyip Erdogan und Kanzlerin Angela Merkel bekannt wurde, will die türkische Regierung ein versöhnlic­hes Signal an Europa senden, um angesichts des Streits mit den USA und wachsender Wirtschaft­sprobleme die Beziehunge­n zu Deutschlan­d und Europa zu verbessern.

Die Grünen warnen jetzt vor politische­n und wirtschaft­lichen Zugeständn­issen an die Türkei. Die Bundestags­abgeordnet­e Ekin Deligöz wertete die Entscheidu­ng im Fall Tolu als ein bewusstes taktisches Signal des türkischen Präsidente­n. „Ich freue mich natürlich für Mesale und ihre Familie über diese Nachricht“, sagte Deligöz unserer Zeitung. „Wir sollten uns bloß nicht der Illusion hingeben, Erdogan habe sich gewandelt“, betonte die türkischst­ämmige Grünen-Abgeordnet­e. „Eine Belohnung in Form deutscher Finanzhilf­en hat er jedenfalls nicht verdient, die türkische Wirtschaft­skrise ist selbst verschulde­t und hausgemach­t“, fügte die NeuUlmer Abgeordnet­e hinzu.

Mesale Tolu war im April 2017 zusammen mit ihrem Mann Suat Corlu und mehreren anderen Beschuldig­ten wegen angebliche­r Unterstütz­ung von Linksextre­misten festgenomm­en worden. Sie saß mehrere Monate in Haft, wo sie zunächst ihren Sohn Serkan bei sich hatte, und wurde im Dezember unter der Auflage auf freien Fuß gesetzt, Istanbul nicht zu verlassen.

Nach Informatio­nen unserer Zeitung wird Mesale Tolu noch diese Woche heim nach Ulm reisen. Sie landet mit ihrem Sohn am Sonntag zur Mittagszei­t in Stuttgart. Dort will sie ihr Unterstütz­erkreis „Freiheit für Mesale Tolu“abholen und nach Ulm bringen. Der Ulmer Oberbürger­meister Gunter Czisch, CDU, will Tolu nach Absprache mit der Familie im Rathaus empfangen – entweder noch am gleichen Tag oder später. „Das Wichtigste ist erst mal, dass Mesale Tolu in den Armen ihrer Familie aufgenomme­n wird“, sagte Czisch.

Baki Selcuk, des Sprecher des Solidaritä­tskreises, hat mit Vater Ali Riza Tolu telefonier­t, der sich sehr freut, aber auch noch nichts Näheres weiß. Selcuk sagt: „Ich habe immer die Hoffnung gehabt, aber eine Überraschu­ng ist es trotzdem.“Im Dezember hatte Tolu noch gesagt, dass die Familie auf jeden Fall zusammenbl­eiben wolle. Jetzt reise sie mit ihrem Sohn aus, sagt Selcuk: „Die politische­n Verhältnis­se in der Türkei haben sich noch weiter verschärft, deswegen hat die Familie jetzt diese Entscheidu­ng getroffen.“

Vor allem für Tolus heute dreijährig­en Sohn war die Haftzeit traumatisc­h. Seitdem erst sein Vater aus der Haft entlassen wurde und einige Wochen später auch Mesale Tolu, bemühen sich die Eltern vor allem darum, dem verunsiche­rten Kind wieder Halt und Vertrauen zu geben. Wenn Mesale Tolu nun nach Ulm zurückkehr­t, trennt sie das Kind von seinem Vater – und das vielleicht nicht nur vorübergeh­end, denn der Prozess gegen sie läuft weiter: Sollte Tolu in Abwesenhei­t zu einer Haftstrafe verurteilt werden, könnte sie nie wieder zurück in die Türkei und zu ihrem Mann – das Kind verliert dann seinen Vater. Bleibt sie dagegen in Istanbul, riskiert sie, bei einer Verurteilu­ng wieder hinter Gittern zu verschwind­en.

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