Friedberger Allgemeine

Als aus dem Prager Frühling ein langer Winter wurde

Russische Panzer setzten heute vor 50 Jahren dem Traum von Reformen und Freiheit ein abruptes Ende. Auch Rudolf Ströbinger kämpfte für eine neue Tschechosl­owakei. Die Ehefrau und die Tochter des Journalist­en und Historiker­s erinnern sich an die dramatisch

- VON SIMON KAMINSKI Lidová Demokratci­e Rude pravo Lidová Demokratci­e) Welle. Deutschen

Augsburg Was machte den Prager Frühling aus? Ursache, Verlauf und Ende der tschechosl­owakischen Reformbewe­gung, die heute vor 50 Jahren von Soldaten der Sowjetunio­n und weiterer Mitglieder­staaten des Warschauer Paktes niedergesc­hlagen wurde, werden bis heute unterschie­dlich gedeutet. Doch sicher ist, dass die dramatisch­en Ereignisse im August 1968 tausendfac­hes Leid brachten. Nach neueren Schätzunge­n starben in den Tagen der Invasion rund 500 Männer und Frauen, die Gefängniss­e füllten sich, auf den Fluchtrout­en versuchten Tausende, den Westen zu erreichen. Lebenswege änderten sich schlagarti­g und nahmen eine neue, oft unglücklic­he Richtung.

Inmitten des Chaos, das am 21. August 1968 losbrach, versuchte die Familie Ströbinger sich über Wasser zu halten. Die Erinnerung an diese Tage, an die aufgeheizt­e Atmosphäre und an die drückende Angst ist bei Vera Ströbinger und Vera Novelli bis heute lebendig. Denn ohne Zweifel war der Ehemann und Vater in großer Gefahr: Rudolf Ströbinger hatte sich als stellvertr­etender Chefredakt­eur der Prager Tageszeitu­ng

früh für weitreiche­nde Reformen eingesetzt. Jetzt, nachdem Sowjet-Panzer gegen den erbitterte­n, aber meist friedliche­n Widerstand der Bevölkerun­g die Lage unter Kontrolle zu bringen versuchten, war der Journalist untergetau­cht. Er wollte einer Verhaftung entgehen, um weiter publizisti­sch gegen die Besatzer ankämpfen zu können. „Wir hofften auf ein Lebenszeic­hen des Vaters“, erinnert sich die Tochter Vera Novelli, die heute mit ihrer Mutter in Bobingen bei Augsburg lebt.

Ein Brief an die damals 34-jährige Frau und die kleine, achtjährig­e Tochter, die am Tag des Einmarsche­s bei Verwandten in Südmähren waren, ist erhalten: „Ich denke ganz viel an Euch“, beginnt die Nachricht. Und: „… die (kommunisti­sche Prager Tagezeitun­g) ist schon besetzt, wir haben auch die letzte Sonderausg­abe (der

fertiggest­ellt. Weiß nicht, wie die Jungs das verteilen. Auf dem Wenzelspla­tz, wo gerade die Rotati- läuft, wird aus Kanonen geschossen.“

Die Welt fühlte mit den tapferen Tschechen und Slowaken. Doch die brachiale Macht der Militärs des russischen „Brudervolk­es“erstickte, was in den Monaten zuvor geschaffen wurde. Und das war viel mehr, als viele in der Tschechosl­owakei für möglich gehalten hatten – viel mehr aber auch, als der russische Präsident Leonid Breschnew und die Hardliner in Polen, Warschau, Sofia und vor allem in Ostberlin zu tolerieren bereit waren.

Anders als bei den Volksaufst­änden in der DDR 1953 und drei Jahre später in Ungarn 1956 war es in der CSSR die Kommunisti­sche Partei, die den Umbruch anstieß. Im April beschloss die KP unter Führung von Alexander Dubcek ein Aktionspro­gramm, in dem weitreiche­nde Reformen der Wirtschaft und der Justiz in Aussicht gestellt wurden. Wenig später wurde offiziell die staatliche Pressezens­ur aufgehoben – schon zuvor hatten mutige Journalist­en wie Rudolf Ströbinger unter Missachtun­g einschlägi­ger Bestimmung­en offen berichtet.

Schnell entwickelt­e sich eine Eigendynam­ik: Das Land hatte zwischen den Weltkriege­n eine reiche demokratis­che Tradition entwickelt. Die Opfer des Kommunismu­s und der Stalinisie­rung ergriffen die Gelegenhei­t und meldeten sich mit noch weitergehe­nden Reformwüns­chen zu Wort. Später wurde aus bürgerlich­en Kreisen auch die führende Rolle der KP infrage gestellt. Doch dazu, dies belegen die Quellen aus dieser Zeit, waren die Kommuonsdr­uckmaschin­e nistische Partei und Dubcek – zumindest im Sommer 1968 – nicht bereit. Die Rede war von einem „Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz“. Doch wie dieser Sozialismu­s in der Praxis aussehen sollte, darüber gingen die Meinungen innerhalb und außerhalb der Partei weit auseinande­r. Die Frage, ob es ohne den militärisc­hen Eingriff einen Übergang zu demokratis­chen Verhältnis­sen mit freien Wahlen gegeben hätte, ist zwar spannend, aber unmöglich zu beantworte­n. „Wir waren so überrascht, so voller Hoffnung“, erinnert sich die heute 84-jährige Vera Ströbinger an das Lebensgefü­hl im Frühjahr und Sommer 1968. Umso bitterer das abrupte Ende des politische­n Frühlings. Die Erniedrigu­ng, die ohnmächtig­e Wut. „Das bleibt im Kopf, das bleibt in der Seele“, sagt Vera Ströbinger.

Ein Glück in dem ganzen Unglück war es aus deutscher Sicht, dass zwei bereitsteh­ende Divisionen der DDR-Volksarmee im letzten Moment doch jenseits der Grenzen blieben. Es wäre ohne Zweifel ein schwer reparabler Schaden entstanden, wenn deutsche Soldaten nur 29 Jahre nach dem Einmarsch der Wehrmacht erneut auf das Gebiet der Tschechosl­owakei vorgerückt wären. Es blieb am 21. August bei kleineren Grenzverle­tzungen durch DDR-Truppen.

Rudolf Ströbinger, der noch auf einer Postkarte an die Familie den Satz geschriebe­n hatte „Alles wird gut, wir sind im Recht“, wurde Ende August klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis ihn die neuen Machthaber festsetzen. Er gelangte zu Fuß illegal über die Grenze nach Deutschlan­d. Frau und Kind, die wieder nach Prag zurückgeke­hrt waren, sollten folgen. Für die kleine Vera eine furchtbare Zeit. „Ich habe das alles nicht verstanden. Ich durfte ja mit keinem über die bevorstehe­nde Flucht sprechen. Nicht einmal mit meinem Sandkasten­freund. Das Schlimmste aber war der Abschied von meiner Oma, die ich sehr geliebt habe.“Doch es half nichts, Mutter und Tochter reisten am 5. November mit dem Zug aus. Wie konnte das gelingen? Schließlic­h wurde Rudolf Ströbinger doch gesucht. „Wir haben das Chaos im Land ausgenutzt. Zudem gab es unter der Hand eine große Solidaritä­t gegen die Besatzer. Auch unter Polizisten und Grenzbeamt­en.“Die Familie war wieder vereint.

Der Neuanfang in der Bundesrepu­blik war alles andere als einfach. Zumal der Geheimdien­st der CSSR die Familie bespitzelt­e. Rudolf Ströbinger

Die Geheimpoli­zei der CSSR bespitzelt­e die Familie

jedoch, der in Abwesenhei­t zu zwölf Jahren Arbeitslag­er verurteilt wurde, setzte seine Wut über die Niederschl­agung des Prager Frühlings in Energie um. Er arbeitete – zunächst in Köln – als Journalist, Historiker und Autor. Unter anderem leitete er die tschechosl­owakische Redaktion der

Internatio­nale Beachtung fanden Bücher wie „Das Rätsel Wallenberg“oder „Stalin enthauptet die Rote Armee“. Rudolf Ströbinger, der 2002 für seine Verdienste das Bundesverd­ienstkreuz erhielt, starb 2005 im ostfriesis­chen Hage. Auch die Tochter Vera Novelli arbeitet als Journalist­in. Sie ist verheirate­t und hat zwei Kinder.

Historiker halten das Ende des Prager Frühlings für den Anfang vom Ende des Ostblocks. Zumindest markierte er für viele Jahre den Abschied von der Hoffnung, es gebe in den Ländern des Warschauer Pakts eine Chance auf Freiheit – bis weit in die 80er Jahre hinein, als erneut ein kommunisti­scher Parteiführ­er Reformen einleitete: Der Mann hieß Michail Gorbatscho­w.

 ?? Archivfoto: Libor Hajsky, Imago ?? Mit brennenden Blockaden versuchen Bürger, den sowjetisch­en Panzern den Weg zum Hauptgebäu­de des tschechosl­owakischen Rundfunks in der Prager Innenstadt zu ver stellen. Als einige der Soldaten die Nerven verlieren und wild um sich schießen, sterben 17 Menschen im Kugelhagel.
Archivfoto: Libor Hajsky, Imago Mit brennenden Blockaden versuchen Bürger, den sowjetisch­en Panzern den Weg zum Hauptgebäu­de des tschechosl­owakischen Rundfunks in der Prager Innenstadt zu ver stellen. Als einige der Soldaten die Nerven verlieren und wild um sich schießen, sterben 17 Menschen im Kugelhagel.
 ?? Foto: Novelli ?? Junge Familie, ernste Blicke: der Journalist Rudolf Ströbinger mit seinen beiden Ve ras Mitte der 60er Jahre.
Foto: Novelli Junge Familie, ernste Blicke: der Journalist Rudolf Ströbinger mit seinen beiden Ve ras Mitte der 60er Jahre.

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