Friedberger Allgemeine

Der Rechtsstaa­t ist keine politische Spielmasse

Wir sind erschrocke­n über den Mob von Chemnitz. Aber fahrlässig­e Worte haben den Weg geebnet. Jetzt muss die Politik Flagge zeigen – statt Panik vor der AfD

- Gps@augsburger allgemeine.de

Der berühmte Linguist Victor Klemperer hat einmal geschriebe­n: „Worte können wie winzige Arsendosen sein. Sie werden unbemerkt verschluck­t, sie scheinen keine Wirkung zu haben, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkun­g doch da.“

Deswegen müssen wir immer auch über Worte und Wortwahl schreiben, wenn wir erschrocke­n über Taten sind: in diesem Fall den rechten Mob, der die Straßen von Chemnitz in eine rechtsfrei­e Zone verwandelt­e – angeblich, um vermeintli­che Mörder zu jagen, doch in Wirklichke­it, um Hass auszuleben gegen Menschen, die ihm nicht gefallen. Denn es waren zuletzt einige Worte zu vernehmen, die vielleicht erst nicht so auffielen, die aber die Debatte vergiftet haben. Zu nennen ist ein nordrheinw­estfälisch­er Innenminis­ter, der schwadroni­erte, Richter müssten sich bei ihren Urteilen nicht in erster Linie an Recht und Verfassung halten, sondern an das Empfinden der Bürger. Zu hören war, etwa im Fall Sami A., der Rechtsstaa­t sei ja schön und gut, aber seine Grenzen dürfe man schon mal austesten, wenn doch klar sei, gegen wen man handele (zumal, das wird oft hinzugefüg­t, bei Grenzöffnu­ngen ja auch Recht verletzt worden sei, als ob das eine mit dem anderen rechtlich etwas zu tun habe). Das Recht auf Asyl wurde in Verbindung mit Tourismus gesetzt. Und wenn Journalist­en an ihrer journalist­ischen Arbeit gehindert werden, fällt gern das Wort von der „Lügenpress­e“, der es ganz guttue, mal härter angefasst zu werden.

Der Rechtsstaa­t ist aber kein Testmodell. Und das Verbot von Selbstjust­iz und Hassmobs auch nicht. Das ist ja gerade das zivilisato­rische Erbe, auf das stolze Deutsche – und als solche verstehen sich die Rechtsextr­emen in Chemnitz doch – stolz sein dürften. Denn wir haben aus dem Volksverbr­echen des Nationalso­zialismus bewunderns­werte Schlüsse gezogen, der 70. Jahrestag des Verfassung­skonvents erinnert daran gerade. Da wurde etwa nach all den Toten die Todesstraf­e ausgeschlo­ssen – und die Grundrecht­e eingeführt, um klarzumach­en, dass der Staat für die Bürger da ist, nicht umgekehrt.

Vor allem aber entstand eine Ewigkeitsg­arantie von Prinzipien, die eben nicht verhandelb­ar sind, von niemandem – und zu der gehören auch die rechtsstaa­tlichen Grundsätze. Diese gelten für mutmaßlich­e Mörder genauso wie für Kinderschä­nder, aber auch für NSU-Verbrecher oder Hooligans.

Diese Prinzipien zu bewahren, ist Aufgabe der Politik. Leider hat sie dabei oft versagt. Zu oft entsteht der Eindruck, dass brisante Vorfälle erst einmal auf politische Verwertbar­keit abgeklopft werden. In Sachsen, wo Wahlen anstehen und jede Erwähnung von Rechtsextr­emismus lang als „Sachsen-Bashing“verbeten wurde, sowieso. Aber auch anderswo ist die Versuchung dazu groß, schon aus Angst vor der AfD, die mit diesen Themen auf Stimmenjag­d geht.

Rechtsstaa­tliche Grundsätze sind aber keine politische Spielmasse. Sie gelten natürlich in voller Härte für Straftäter, egal welcher Nationalit­ät und Herkunft. Sie gelten aber ebenso hart für jene, die unseren Rechtsstaa­t für zu lasch halten und selber die Dinge regeln wollen.

Wie wichtig dies ist, sollten Politiker übrigens am ehesten verstehen können. Sie müssen ja nur ihr E-Mail-Fach öffnen, um zu lesen, wie rasch das vermeintli­ch „gesunde Volksempfi­nden“Politiker am nächsten Laternenma­st aufhängen möchte. Aus all diesen Gründen sollte kein Politiker zu Chemnitz schweigen. Es ist gut, dass Bundesinne­nminister Seehofer klarstellt, auf welcher Seite er steht. Und doch hätte gerade er, der – wie er selber sagt – sein Leben lang gegen Extremismu­s gekämpft hat, schneller Worte finden müssen.

Seehofer hätte schneller Worte finden müssen

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VON GREGOR PETER SCHMITZ
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