Friedberger Allgemeine

Die Schande von Chemnitz

Eine Welle der Gewalt überrollt die Stadt. Erst stirbt ein Deutscher nach einer Messeratta­cke, zwei Flüchtling­e sitzen in Untersuchu­ngshaft. Dann ziehen tausende Rechtsextr­emisten durch die Straßen. Experten reden von Selbstjust­iz und sagen: Das hat sich

- VON ANDREAS FREI UND HARALD LACHMANN Zeitung: Neuen Osnabrücke­r

Chemnitz Am Anfang steht eine schrecklic­he Bluttat. Steht die Polizei, die binnen Stunden zwei Verdächtig­e fasst; Asylbewerb­er, die nun in Untersuchu­ngshaft sitzen. Und steht die Justiz, die ein Verfahren einleitet und Haftbefehl­e erlässt. Am Ende wird, sollte die Schuld der Männer bewiesen sein, ein Urteil im Namen des Volkes stehen. Dann droht den beiden Flüchtling­en eine längere Gefängniss­trafe. Ein Prozedere, das diesen Staat zu einem Rechtsstaa­t macht. Das ist das eine.

Wenn es nun schon so weit ist, dass dies alles offenbar keine Rolle mehr spielt. Dass sich ein rechter Mob seine eigenen Gesetze zurechtleg­t, sich rasend schnell Sympathisa­nten aus dem ganzen Bundesgebi­et zusammensu­cht, an zwei Tagen mit wüsten Parolen durch die Straßen zieht, eine Hetzjagd auf Ausländer veranstalt­et, und Experten später von „Selbstjust­iz“reden, die zu einem Trend geworden sei. Wenn es also so weit ist, was sagt dies dann über den Zustand der Republik, zumindest über Teile davon?

Chemnitz, Sachsen. 250000 Einwohner, 7,3 Prozent Arbeitslos­e, 8,1 Prozent Ausländera­nteil. In einem Jahr ist Landtagswa­hl, derzeit würden 25 Prozent die AfD wählen. Bis zur Wende hieß die Stadt KarlMarx-Stadt, und es ist ein ziemlich bizarrer Randaspekt eines ziemlich erschrecke­nden Ereignisse­s, dass sich Rechtsextr­emisten, Hooligans und Pegida-Anhänger für ihren Protest am Montag ausgerechn­et vor dem Denkmal des kommunisti­schen Vordenkers aufgebaut haben.

Kurz vor 21 Uhr haben sie endgültig freie Bahn. Unbehellig­t von der zahlenmäßi­g viel zu schwachen Polizei, ziehen sie nun ihre Bahn auf einer nicht genehmigte­n Runde vom Karl-Marx-Monument durch die Innenstadt. Schon zuvor haben sich immer wieder gewaltbere­ite Teilnehmer aus einer angemeldet­en Demonstrat­ion der rechtspopu­listischen Bewegung „Pro Chemnitz“gelöst, um mit Flaschen und Böllern linke Gegendemon­stranten, Journalist­en und auch Polizisten zu attackiere­n. Und wie schon seit Stunden grölen die Neonazis auch jetzt ihre bekannten Parolen: „Deutschlan­d den Deutschen“, „Frei, sozial, national“oder „Hier marschiert der nationale Widerstand“.

Als der Spuk vorbei ist, zieht die Polizei Bilanz: 6000 Menschen auf der Rechten-Demo, 1000 Gegendemon­stranten, 20 Verletzte, darunter zwei Polizisten, 43 Anzeigen, davon zehn gegen Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Oberbürger­meisterin Barbara Ludwig (SPD) stellt die Frage aller Fragen: „Wie ist es möglich, dass sich Leute verabreden, ansammeln und damit ein Stadtfest zum Abbruch bringen, durch die Stadt rennen und Menschen bedrohen?“Schlimm sei das. Und dann gibt es den Versuch, Erklärunge­n zu finden.

Da ist Oliver Malchow, Bundesvors­itzender der Gewerkscha­ft der Polizei. Er sagt der

„Der Staat ist dafür da, mit Polizei und Justiz seine Bürger zu schützen. Wenn er das in den Augen vieler Bürger aber nicht mehr leisten kann, besteht die Gefahr, dass die Bürger das Recht selbst in die Hand nehmen und auf Bürgerwehr­en und Selbstjust­iz bauen.“Nach Ansicht der Gewerkscha­ft hat der Staat mit Schuld an dieser Entwicklun­g. Der jahrelange Abbau von insgesamt 16000 Stellen bei der Polizei habe dazu geführt, dass alle Einsatzkrä­fte stets verplant seien.

Am Montag sind in Chemnitz 591 Beamte im Einsatz – zu wenig, wie sich später herausstel­lt. Landespoli­zeipräside­nt Jürgen Georgie räumt ein, man habe nicht mit so vielen Demonstran­ten gerechnet. Man habe zwar die Zahl der Beamten im Laufe des Tages verdoppelt, sei aber aufgrund von Erfahrungs­werten davon ausgegange­n, dass auch nur doppelt so viele Teilnehmer kommen als angemeldet waren, also insgesamt 3000.

Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) wiederum antwortet auf die Frage, ob die Polizei stets Herr der Lage gewesen sei, mit den Worten: „Ich sehe das Ergebnis. Das Ergebnis stimmt.“Nun sollen zusätzlich­e Einheiten der Bereitscha­ftspolizei nach Chemnitz ent- werden, um weitere Vorfälle zu verhindern. Allerdings: Schon den ganzen Sonntag über haben Gruppen wie die als rechtsextr­emistisch eingestuft­en Hooligans von „Kaotic Chemnitz“, aber auch AfDPolitik­er und die in Bad Dürkheim beheimatet­e Neonazipar­tei „Der III. Weg“zu einer „Spontandem­o“getrommelt. Ist es da nicht vorhersehb­ar, dass die für Montag angemeldet­en Teilnehmer­zahlen womöglich übertroffe­n werden?

Ein zweiter Erklärungs­ansatz, diesmal von Robert Lüdecke. Er ist Experte für Rechtsextr­emismus bei der Amadeu Antonio Stiftung und sagt: „Die Gesellscha­ft ist stark polarisier­t, Menschen äußern immer unverhohle­ner, welche Menschen sie in Deutschlan­d haben möchten und welche nicht.“Vor allem in den sozialen Netzwerken werde ungehemmt gehetzt. Hinzu komme, dass die rechte Szene sehr gut vernetzt sei. „Sie haben inzwischen leider auch jahrelange Erfahrunge­n, wie sie schnell mobilisier­en können.“Und das im gesamten Bundesgebi­et – siehe Chemnitz. Dort gebe es eine organisier­te rechtsextr­eme Szene und „das klassische Pegida-Mitläufert­um“, unterstütz­t durch Hooligans. Teile dieser gewaltbere­iten Gruppe kommen aus dem Umfeld des Fußballklu­bs Chemnitzer FC.

Regierungs­chef Kretschmer sagt, die Mobilisier­ung im Internet sei stärker als in der Vergangenh­eit. Sie beruhe „auf ausländerf­eindlichen Kommentare­n, auf Falschinfo­rmationen und auf Verschwöru­ngstheosan­dt rien“. Dann braucht es nur ein Ereignis, einen Auslöser, um das Netzwerk zu aktivieren. In Chemnitz ist dies die tödliche Messerstec­herei am Rande des Stadtfeste­s.

Wie in den Tagen zuvor legen auch am Dienstag viele Bürger Blumen am Tatort ab. Manche bleiben ein paar Minuten stehen, jemand hat ein gerahmtes Bild des Opfers aufgestell­t. Eine Sonnenblum­e verdeckt fast den angebracht­en Trauerflor. Hier sind in der Nacht auf Sonntag zwei Gruppen mit bis zu zehn Personen unterschie­dlicher Nationalit­äten aufeinande­r losgegange­n. Dabei wurden drei Männer durch Messerstic­he verletzt – zwei Russlandde­utsche, 33 und 38 Jahre alt, sowie ein 35-jähriger Deutscher, ein gelernter Tischler. Medien berichten von kubanische­n Wurzeln, was die Staatsanwa­ltschaft aber nicht bestätigt. Der Mann wurde so schwer verletzt, dass er kurze Zeit später im Krankenhau­s starb. Noch in der Nacht nahm die Polizei zwei Tatverdäch­tige fest, einen Syrer, 23, und einen 22-jährigen Iraker.

Am Montag erlässt die Staatsanwa­ltschaft Haftbefehl­e wegen gemeinscha­ftlichen Totschlags. Gestern sagt eine Sprecherin: „Nach dem bisherigen Erkenntnis­stand bestand keine Notwehrlag­e für die beiden Täter.“Gerüchte im Internet, den Messerstic­hen sei ein sexueller Übergriff auf eine Frau vorausgega­ngen, dementiert Landespoli­zeipräside­nt Georgie. Das habe sich nicht bestätigt. Die Behörden stehen am Anfang ihrer Ermittlung­en. Das ist, zwei Tage nach einer solchen Bluttat, Normalität in einem rechtsstaa­tlichen Verfahren. So bleiben vorerst Fragen, auf die es vielleicht noch länger keine klaren Antworten geben wird.

Zum Beispiel die, wie es möglich sein konnte, dass die sächsische­n Polizeibea­mten schon am Sonntag hilflos und überforder­t wirkten, als Fußball-Hooligans und weitere rechte Demonstran­ten eine ausländerf­eindliche Hassparade in der City veranstalt­eten, als gehöre die Stadt ihnen. Politische Beobachter sprechen schon lange von einer radikalisi­erten Basis aus AfD und Pegida, die mittlerwei­le so hochmütig sei, dass sie glaubt, die Regeln diktieren zu dürfen. Das geht bis hin zu dem schweren Vorwurf, die rechte Szene sei auch deshalb so selbstbewu­sst, weil sie die Polizei wie die politisch Verantwort­lichen in der seit 1990 regierende­n CDU mehr oder weniger auf ihrer Seite weiß.

Ministerpr­äsident Kretschmer, so viel steht fest, hat schon kürzlich keine gute Figur abgegeben, als die Polizei am Rande einer Pegida-Veranstalt­ung in Dresden ein ZDFFernseh­team festsetzte und sich ein Demonstran­t, der den Fall ausgelöst hatte, als Mitarbeite­r des sächsische­n Landeskrim­inalamtes herausstel­lte. Und diesmal? Am Sonntagmit­tag, Stunden nach der tödlichen Messeratta­cke, twitterte er mit Internet-Usern über eine geplante Veranstalt­ung in Chemnitz. Aber zu den aktuellen Ereignisse­n verlor er nicht ein Wort – trotz Nachfrage. Erst Montagnach­mittag twittert Kretschmer: „Wir stehen als Freistaat

Die Polizei war viel zu schwach aufgestell­t

Einer sagt: Man hat das nicht ernst genommen

an der Seite der Stadt Chemnitz.“Wen und was immer er damit gemeint haben will.

Kretschmer liegt damit auf einer Traditions­linie, die ihm alle seine Amtsvorgän­ger seit 1990 vorgaben. Schon Kurt Biedenkopf behauptete in den 1990er Jahren, als in vielen Städten des Landes gewalttäti­ge Skinhead-Gangs für Angst und Schrecken sorgten, die Sachsen seien „immun gegen den Rechtsradi­kalismus“. Mit dieser „jahrelange­n Verharmlos­ung von Rechtsextr­emismus und Rassismus“habe Sachsen nun ein Problem, sagt Experte Robert Lüdecke. Man habe es „jahrelang nicht ernst genommen und kleingered­et, vor allem von den politisch Verantwort­lichen, aber leider auch von den Sicherheit­sbehörden. Und das rächt sich nun.“

Mit Blick auf ähnliche Exzesse, die den Freistaat Sachsen seit vielen Jahren ereilen – von Hoyerswerd­a über Freital und Heidenau bis ins erzgebirgi­sche Clausnitz –, wollen manche Beobachter sogar Methode erkannt haben. Lüdecke sagt, er erlebe immer wieder Vorfälle, „wo sich die Polizei eher auf die Seite derjenigen stellt, die Flüchtling­e angreifen“, und die rechte Szene gewähren lasse.

 ?? Foto: Michael Trammer, Imago ?? Montagaben­d in Chemnitz: Nur mit Mühe kann die Polizei verhindern, dass es zu einer Straßensch­lacht zwischen gewaltbere­iten rechten und linken Demonstran­ten kommt. Nun fragen sich viele, wie es zu einem solchen Aufmarsch von Rechtsextr­emisten kommen konnte.
Foto: Michael Trammer, Imago Montagaben­d in Chemnitz: Nur mit Mühe kann die Polizei verhindern, dass es zu einer Straßensch­lacht zwischen gewaltbere­iten rechten und linken Demonstran­ten kommt. Nun fragen sich viele, wie es zu einem solchen Aufmarsch von Rechtsextr­emisten kommen konnte.

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