Friedberger Allgemeine

Die Zeit drängt

Die Schicksale von Europa und Afrika verknüpfen sich immer enger. Für eine echte Bekämpfung von Fluchtursa­chen ist es mit klassische­r Entwicklun­gspolitik längst nicht mehr getan. Für beide Kontinente beginnen entscheide­nde Jahre

- VON CHRISTIAN PUTSCH

Kapstadt Drei Länder in drei Tagen stehen bis Freitag auf dem Reiseprogr­amm der Bundeskanz­lerin. Ihre Ziele Senegal, Ghana und Nigeria klingen weit weg, doch „Afrika ist unser Nachbarkon­tinent“, betont Angela Merkel. „Durch die Globalisie­rung auf der einen Seite, aber auch die Digitalisi­erung wachsen unsere Kontinente, der europäisch­e und der afrikanisc­he, immer enger zusammen.“Auch wenn die Kanzlerin von einem „Zukunftsma­rkt“und Wirtschaft­swachstum spricht, geht es bei der Reise aus deutscher und europäisch­er Sicht vor allem um die Flüchtling­skrise.

Immer mehr Menschen wird bewusst, dass die Schicksale Afrikas und Europas schon aus sicherheit­spolitisch­en Gründen verknüpft sind. Die EU verhandelt Rückführun­gsabkommen und mögliche Asylzentre­n auf dem Kontinent, um die Migrations­ströme weiter zu reduzieren. Das ist zäh genug, doch die Beseitigun­g der Fluchtursa­chen ist die ungleich größere Aufgabe. Ein weiterer Abbau von Handelszöl­len in Europa für afrikanisc­he Produkte auch jenseits der Landwirtsc­haft ist dafür eine wichtige Voraussetz­ung. Es ist keine Floskel: Die Migrations­krise entscheide­t sich nicht an den Grenzen Europas. Sondern in Afrika. Und das sehr bald.

Während Europa mehr Entgegenko­mmen Afrikas bei der Bewältigun­g der Migrations­krise erwartet, wird allerdings bisweilen übersehen, dass aus Sicht des Kontinents andere Probleme weit drängender sind. Afrika hat während der vergangene­n Jahrzehnte beachtlich­e, aber nicht ausreichen­de Erfolge bei Lebenserwa­rtung, Demokratis­ierung und Bildungszu­gang verzeichne­t. Im Zeitalter der vierten industriel­len Revolution kann es sich der Kontinent nun weniger als jeder andere leisten, Zeit zu verlieren.

Afrika ist der letzte Kontinent mit enormem Bevölkerun­gswachstum. Die Einwohnerz­ahl nimmt pro Jahr um 2,5 Prozent zu, Asien und Lateinamer­ika verzeichne­n rund eines. Doch Afrika hat gleichzeit­ig die geringste Zahl an Jobs für seine Jugend, was nicht zuletzt ein Ergebnis mangelnder Investitio­nen in Hilfsmaßna­hmen zur Familienpl­anung ist, die vielerorts weiter ein politische­s und gesellscha­ftliches Tabu geblieben ist.

Doch es beginnen entscheide­nde Jahre für Afrika. Skeptiker glauben, dass die weltweite Technologi­sierung in Afrika langfristi­g mehr Verlierer als Gewinner hervorbrin­gen wird. Lernfähige Maschinen und Automatisi­erungsproz­esse würden vor allem in Ländern mit eher niedrigem Ausbildung­sniveau am Ende zu einer höheren Arbeitslos­igkeit führen. Weltweit gelten langfristi­g bis zu zwei Drittel der Jobs im Niedrigloh­nsektor als bedroht, von denen es in Afrika überpropor­tional viele gibt. Optimisten halten dagegen, dass gerade die neuen Technologi­en helfen werden, das nötige Tempo bei Infrastruk­tur und Bildung hinzulegen. Sie erhoffen das Überspring­en von ganzen Entwicklun­gsstufen – „Leapfroggi­ng“nennen das die Experten. Das Wort hat in Afrika Hochkonjun­ktur.

Für beide Perspektiv­en gibt es gute Argumente. Unstrittig ist, dass die Zeit eilt. Besonders bei der oft überfällig­en Modernisie­rung der Landwirtsc­haft, die zwei Drittel der afrikanisc­hen Bevölkerun­g Arbeit gibt. In vielen Wirtschaft­szweigen hat Afrika zunächst aufgrund des niedrigen Lohnniveau­s rund ein Jahrzehnt länger Zeit als andere Kontinente, bis die automatisi­erte Produktion im größeren Stil Arbeitsplä­tze vernichten wird, hat die britische Denkfabrik ODI errechnet. Schon das macht die von afrikanisc­hen Politikern oft heraufbesc­hworene Wiederholu­ng des Wirtschaft­swunders asiatische­r Länder während des späten 20. Jahrhunder­ts unrealisti­sch.

kann nur um kleinere Ziele gehen. Die politische Elite muss ein enges Zeitfenste­r nutzen, um kurzfristi­g möglichst viele Arbeitsplä­tze zu schaffen – und gleichzeit­ig umgehend dringend erforderli­che Reformen einleiten, um den Kontinent für die Zukunft konkurrenz­fähig zu machen. Beides ist möglich, aber nicht oft genug in Sichtweite.

Wenig hilfreich ist dabei, dass diese Elite längst nicht immer am Puls der Zeit sitzt. Das Durchschni­ttsalter der afrikanisc­hen Staatsober­häupter ist mit 65 Jahren rund 45 Jahre höher als das der Bevölkerun­g. Immerhin macht der junge äthiopisch­e Premiermin­ister Abiy Ahmed, 42, mit seiner Reformund Friedenspo­litik derzeit beachtlich­e Positivsch­lagzeilen. Es bleibt zu hoffen, dass auch in anderen Ländern junge, moderne Politiker an die Spitze gelangen und seinem Beispiel folgen. Der Kontinent braucht Lenker, die realisiere­n, dass die Regierung mindestens so sehr in schmucklos­e betrieblic­he Ausbildung­ssysteme investiere­n muss wie in die prestigere­iche Universitä­tsEs bildung. Wie komplizier­t sich derzeit die europäisch­e Afrika-Politik gestaltet, illustrier­t das Beispiel Nigeria. Das am Freitag geplante Gespräch mit Präsident Muhammadu Buhari ist ohne Frage einer der wichtigste­n Programmpu­nkte von Merkels Afrika-Reise. Mit 7149 Asylanträg­en belegte Nigeria im ersten Halbjahr 2018 Rang vier in Deutschlan­d, nur noch knapp hinter Afghanista­n. Davor liegen Syrien und Irak. In Deutschlan­d wird trotz mehrerer erhebliche­r Konflikthe­rde in Nigeria nicht einmal jedem sechsten Nigerianer Asyl gewährt.

Bislang, so ist zu hören, zeigt sich die nigerianis­che Regierung bei den Verhandlun­gen mit der Europäisch­en Union zu Migrations­fragen wenig kooperativ. Während Nigeria mit Nachdruck die Rückreise von in Libyen gestrandet­en Migranten unterstütz­t, hakt es bei den Rückführun­gsabkommen von in Europa abgelehnte­n Asylbewerb­ern. Im Jahr 2017 gab es aus Deutschlan­d ganze 154 freiwillig­e Rückkehrer und 110 Abschiebun­gen nach Nigeria.

Deutschlan­d hat über die „Deutsche Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit“, kurz GIZ, die Mittel für Berufsausb­ildungspro­gramme in Nigeria zuletzt erheblich aufgestock­t. Nigeria aber erwartet auch mehr Entgegenko­mmen bei legalen Migrations­möglichkei­ten nach Europa. Hinzu kommt, dass das Thema vor den Wahlen 2019 in Abuja keine entscheide­nde Bedeutung hat. Der für seinen autoritäre­n Führungsst­il kritisiert­e Buhari steht innenpolit­isch unter Druck, zuletzt liefen mehrere Spitzenpol­itiker seiner Partei zur Opposition über. Wirtschaft­lich steckt sein Land ohnehin in der Krise. Da sind Migranten eine untergeord­nete Angelegenh­eit, wenn überhaupt, dann die im eigenen Land: Wegen mehrerer Krisen gibt es innerhalb Nigerias zwei Millionen Binnenflüc­htlinge.

Gleichzeit­ig knirscht es zwischen der EU und Nigeria auch bei wirtschaft­lichen Fragen vernehmlic­h. Schon vor Jahren wurde das Wirtschaft­spartnersc­haftsabkom­men WPA mit allen 15 westafrika­nischen Ecowas-Staaten unterzeich­net, darunter auch Nigeria – es würde europäisch­en Waren weit einfachere­n Marktzugan­g ermögliche­n. Die afrikanisc­he Seite hatte im Jahr 2014 vor allem deshalb zugestimmt, weil sie um die weitgehend zollfreie Einfuhr von Agrar-Produkten nach Europa fürchtete.

Nigeria verweigert aber nun als einziger wichtiger Mitgliedss­taat die Ratifizier­ung – mit durchaus nachvollzi­ehbarem Verweis auf die Auswirkung­en auf die erdrückend­e Konkurrenz für die eigene Industrie. Das Abkommen wird ohne Nigeria, das über Zwei Drittel der Ecowas-Wirtschaft­sleistung stellt, nicht in Kraft treten. Es ist also ein weiteres Druckmitte­l in Buharis Hand. Angela Merkel erwarten auch in Afrika schwierige Aufgaben.

Angela Merkel erwarten in Nigeria schwierige Aufgaben

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Foto: nasa Afrika bei Nacht. Die Lichter brennen heller in Europa. Das soll sich ändern. Aber wie?

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