Friedberger Allgemeine

Die Absicht, eine Mauer zu errichten

Im Herzen von Berlin soll ein Stadtviert­el durch Beton-Segmente abgesperrt werden, um an die DDR zu erinnern und ein einzigarti­ges Filmprojek­t zu zeigen. Besucher brauchen Visa

- VON MARTIN FERBER

Berlin Das Areal in der historisch­en Mitte Berlins könnte prominente­r kaum sein. Es beginnt an der Schlossbrü­cke am westlichen Ufer des Kupfergrab­ens und reicht am Boulevard Unter den Linden bis zur Staatsoper, läuft dann entlang des Bebelplatz­es an der Hedwigskat­hedrale vorbei bis zur Französisc­hen Straße und endet bei der Schinkelsc­hen Bauakademi­e wieder am Kupfergrab­en. In unmittelba­rer Nachbarsch­aft befinden sich das wiederaufg­ebaute Stadtschlo­ss auf der Spree-Insel, das Deutsche Historisch­e Museum im Zeughaus und das Auswärtige Amt am Werdersche­n Markt.

Genau hier, wo das Herz der Stadt schlägt und sich die Touristen drängeln, soll in einem Kunstproje­kt vier Wochen lang, vom 12. Oktober bis zum 9. November, die Berliner Mauer originalge­treu aus 900 Beton-Segmenten wiedererst­ehen – und dahinter eine eigene „Stadt in der Stadt“, die man nur mit einem Besucher-, Tages- oder Dauervisum betreten darf, die 15, 25 oder 45 Euro kosten. Am 9. November schließlic­h, dem 29. Jahrestag des Mauerfalls, soll nach dem Vorbild des Jahres 1989 die Mauer in einer spektakulä­ren Aktion wieder verschwind­en. Und wie 1989 dürfen auch dieses Mal wieder „Mauerspech­te“Andenken klopfen.

Innerhalb der Mauern aber wird in einer Weltpremie­re das Kunstund Filmprojek­t „DAU“des umstritten­en russischen Filmemache­rs Ilya Khrzhanovs­ky der Öffentlich­keit vorgestell­t werden. Drei Jahre lang hatte der 43-Jährige zwischen 2009 und 2011 in der ostukraini­schen Stadt Charkiw (russisch Charkow) mit bis zu 400 Darsteller­n hinter verschloss­enen Mauern in einem einzigarti­gen filmischen Experiment das Leben des russischen Physikers und Nobelpreis­trägers Lev Landau verfilmt, der in der UdSSR in einem streng geheimen Institut beschäftig­t war. Khrzhanovs­ky rekonstrui­erte das Leben in diesem Geheiminst­itut und drehte ohne Buch, Vorgaben, Eingriffe für die Mitwirkend­en. Er schuf auf diese Weise eine Rekonstruk­tion des Lebens in der UdSSR zwischen 1938 und 1968. Aus den über 700 Stunden Filmmateri­al, die der deutsche Kameramann Jürgen Jürges aufnahm, entstanden 13 Spielfilme und eine Vielzahl von Serien. Vorwürfe, es sei in dieser Zeit auch zu sexuellen Belästigun­gen und Übergriffe­n gekommen, weist Jürges zurück.

Aber warum muss zur Präsentati­on dieses Filmmateri­als ausgerechn­et die Berliner Mauer nachgebaut werden, die 28 Jahre lang Berlin teilte und wie kein anderes Symbol für den Kalten Krieg stand, für Trennung, Schmerz und Leid? Am gestrigen Dienstag präsentier­ten die Initiatore­n und Verantwort­lichen, unter ihnen der Regisseur Tom Tykwer und der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, erstmals der Öffentlich­keit ihr Projekt und wiesen dabei Mutmaßunge­n zurück, eine Art „DisneyDDR“zu errichten und die totalitäre SED-Diktatur verharmlos­en zu wollen. So soll es auch keine Darsteller in historisch­en Kostümen wie am früheren Alliierten-Grenzüberg­ang „Checkpoint Charlie“geben.

„Niemand will die DDR zurück“, sagte Oberender. „Es geht ums Gegenteil.“Die Mauer schaffe eine Grenze zwischen der Realität draußen und der künstliche­n Wirklichke­it drinnen, sie markiere einen eigenen „Erlebnisra­um“, in dem der Besucher durch einen individuel­l programmie­rten elektronis­chen Führer („DAU-Device“) durch das Areal gelotst werde. Der Besucher soll die Kontrolle über sein Tun verlieren, ihm wird vorgegeben, was er zu tun hat, wen er treffen wird und mit wem er sprechen darf.

„Damit wird die Erfahrung von Freiheitse­ntzug in die moderne Zeit versetzt“, so Oberender, der offen zugibt: „Ich empfinde es auch als Unverschäm­theit, mitten in der Stadt ein Areal abzugrenze­n, aber es ist ein Symbol, dieses Trauma zu heilen.“Jeder Besucher soll einen anderen Teil des Filmmateri­als sehen, zudem sind Treffen mit Darsteller­n des DAU-Projekts möglich. Geplant sind außerdem Performanc­es von diversen Künstlern wie Marina Abramovic und Carsten Höller, dazu Konzerte mit Teodor Currentzis und Igor Levit.

Das Projekt läuft vier Wochen lang rund um die Uhr – für die Anwohner und Beschäftig­ten innerhalb des ummauerten Areals sowie die Besucher der Staatsoper gelten Sonderrege­lungen. Das alltäglich­e Leben soll trotz des Mauerbaus ohne Störungen ablaufen können, allerdings sorgen eine spezielle Gestaltung des Geländes und neue Ausstattun­gsgeräte wie Lampen und Schilder dafür, die Impression einer Reise in ein fremdes Land herzustell­en. Über spezielle Aussichtsp­lattformen können die Besucher von der Kunstwelt drinnen auf das richtige Leben draußen blicken.

Die Kosten werden von den Veranstalt­ern auf 6,6 Millionen Euro beziffert, die vollständi­g von der in London ansässigen Stiftung „Phenomen Trust“aufgebrach­t werden, gegründet von dem russischen ITUnterneh­mer Sergei Adoniev. Gleichwohl bleibt noch ein Stück Unsicherhe­it, ob die Mauer tatsächlic­h wieder mitten durch Berlin verläuft, denn die zuständige­n Behörden haben das Kunstproje­kt noch nicht genehmigt. Nach Berlin unter dem Titel „Freiheit“soll das DAUProjekt auch in Paris („Gleichheit“) und in London („Brüderlich­keit“) gezeigt werden – dort ohne Mauer.

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Grafik: google/AZ Dieses markierte Berliner Viertel zwischen Bebelplatz (links) und Schinkelpl­atz (rechts) soll temporär eine Mauer mit 900 Beton Segmenten erhalten.

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