Friedberger Allgemeine

Die Gier nach Sensatione­n

Wo andere um ihr Leben kämpfen, suchen Gaffer den besonderen Kick. Sie filmen Unfallopfe­r, stellen das Video ins Internet, behindern Rettungskr­äfte oder attackiere­n sie sogar. Mehrmals hat der Gesetzgebe­r die Strafen verschärft. Hat das was gebracht?

- VON ANDREAS FREI

Augsburg Dass die Feuerwehr so sauer reagiert, passiert nicht alle Tage. Fürth, 19. August. Großbrand bei einer Müllentsor­gungsfirma. Am Abend heißt es, die Lage sei unter Kontrolle. Hinterher allerdings macht die Feuerwehr ihrem Ärger Luft. Auf Facebook schreibt sie: „Großfahrze­uge der Feuerwehr, die an der Einsatzste­lle gebraucht wurden, steckten zwischenze­itlich inmitten der Sensations-Touristen fest.“Wieder einmal also: Gaffer.

Dass die Polizei einen so strengen Bericht verfasst, passiert auch nicht alle Tage. Schönau am Königssee, 22. August. Ein Bergsteige­r verunglück­t tödlich am Watzmann. Die Bergung ist nur per Hubschraub­er und Seil möglich, an dem ein Mitglied der Bergwacht hängt. Im Polizeiber­icht heißt es später, weitere Wanderer hätten „durch ihre Neugierde die Bergung unnötig schwierig und gefährlich“gemacht. So hätten sie sich zu dicht an dem verunglück­ten Mann aufgehalte­n, sodass der Retter am Seil in Gefahr geriet, durch Pendelbewe­gungen Unbeteilig­te vom Grat zu stoßen. „Lautsprech­er-Durchsagen durch die Hubschraub­er-Besatzung konnten die Leute nicht davon abhalten, vor lauter Neugier bis an den Rand der Rinne oberhalb der Einsatzste­lle zu gehen.“Also schon wieder: Gaffer.

Nur zwei Beispiele aus einer Woche, nur aus Bayern. Es gibt noch viel mehr. Hat die Politik nicht mehrmals Gesetze verschärft, um genau so etwas zu verhindern? Hat man nicht noch mehr unternomme­n, etwa Sichtschut­zwände angeschaff­t? Und weisen Einsatzkrä­fte nicht gebetsmühl­enartig darauf hin, wie moralisch verwerflic­h es ist, dort mit der Kamera seines Smartphone­s draufzuhal­ten, wo ein Mensch um sein Leben kämpft? In vielen Fällen scheint die Gier nach Sensatione­n einfach größer zu sein.

Polizei Berchtesga­den, ein paar Tage nach dem Tod des Bergsteige­rs. Bei der Inspektion haben sie einen Polizeiber­gführer, Andreas Hölzl. Er kennt sich aus mit solchen Einsätzen. Hölzl versucht, die Wogen zu glätten. Nach dem Einsatzber­icht, den die örtliche Presse veröffentl­ichte, haben sich Bergsteige­r zu Unrecht angegriffe­n gefühlt. Einer ging an die Öffentlich­keit. Dazu muss man wissen, dass das Bergsteige­n im Berchtesga­dener Land zum Selbstvers­tändnis, ja zur DNA der Einheimisc­hen gehört. Die Augenzeuge­n versuchten sich damit zu rechtferti­gen, dass bei gutem Wetter oft 300 Bergsteige­r und mehr auf dem Grat unterwegs sind. Und dieser Mittwoch sei so ein Tag gewesen. Heißt: Von Gaffen könne keine Rede sein, zum Zeitpunkt des Unglücks seien einfach sehr viele Menschen vor Ort gewesen.

Letzteres bestätigt Hölzl unserer Redaktion. Es habe auch „keine konkrete Gefährdung“gegeben. Er sagt aber auch, dass „einige gaffen wollten“, Steine losgetrete­n hätten und dies nicht ungefährli­ch sei. Die besagten Stellen im Polizeiber­icht seien ein „dezenter Hinweis“gewesen, sich in solchen Situatione­n „defensiv zu verhalten“.

Für viele, die in Unglücksfä­llen an den Einsatzort eilen, um Leben zu retten – Polizei, Feuerwehr, Rettungskr­äfte, Wasserwach­t, Katastroph­enschutz –, ist das Fass längst übergelauf­en. Peter Sefrin, bis vergangene­n Herbst Sprecher der im Freistaat tätigen Notärzte, sagte einmal: „Bei einem Fünftel aller Rettungsei­nsätze wird die Hilfe durch Schaulusti­ge behindert.“Das beginnt beim bloßen Gaffen, geht übers Handyzücke­n und Filmen bis hin zu körperlich­en Attacken auf Retter. „Es ist ein absolutes Unding, wenn Autofahrer bei einem Unfall anhalten – und das nicht, um zu helfen, sondern um zu gaffen und zu fotografie­ren“, sagt Bayerns Justizmini­ster Winfried Bausback unserer Redaktion. Deshalb sei er froh, „dass wir im vergangene­n Jahr nun auch die Behinderun­g hilfeleist­ender Personen unter Strafe gestellt haben. Damit drohen Gaffern erhebliche Strafen und Bußgelder.“

Schon länger müssen Schaulusti­ge, die Verletzte fotografie­ren oder filmen, mit einer Freiheitss­trafe von bis zu zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe rechnen. Der entspreche­nde Paragraf im Strafgeset­zbuch wurde 2015 erweitert. Mit einer Gesetzesän­derung 2017 wurde neben der unterlasse­nen Hilfeleist­ung eben auch die Behinderun­g hilfeleist­ender Personen unter Strafe gestellt. Gesetz sieht eine Geldstrafe oder maximal ein Jahr Haft vor. Gefängniss­trafen sind bisher selten, doch die Polizisten bitten Gaffer vehement zur Kasse.

Im Juli 2017 beispielsw­eise mussten auf der A3 gleich 20 Schaulusti­ge noch vor Ort bezahlen. Sie hatten an einer Unfallstel­le Fotos und Videos gemacht und waren dabei den Rettungskr­äften im Weg gestanden. Seit Herbst werden auch Rettungsga­ssen-Blockierer härter bestraft. Bisher wurden 20 Euro fällig, nun sind es mindestens 200. Werden andere dabei gefährdet oder entsteht ein Sachschade­n, droht zusätzlich ein Monat Fahrverbot.

A8 zwischen Günzburg und Burgau, 5. September 2017. Ein Motorradfa­hrer verunglück­t und kämpft um sein Leben. Nur wenige Meter entfernt hält ein gaffender Lastwagenf­ahrer im Stau stehend sein Smartphone in der Hand und filmt. Zu dem Zeitpunkt sind die Gesetzesve­rschärfung­en längst in Kraft. Der Motorradfa­hrer stirbt noch an der Unfallstel­le. Ein Gericht verhängt später gegen den Gaffer eine Geldstrafe in Höhe von 2700 Euro, außerdem muss er für einen Monat seinen Führersche­in abgeben.

Ulm, 12. Mai. Nach einem tödlichen Unfall, wieder auf der A8, filmt ein Vater vor den Augen seiner Kinder das Geschehen. Die Polizei leitet gegen ihn und neun weitere Gaffer Verfahren ein, auch weil sie den Verkehr behindert und beinahe Unfälle verursacht haben sollen.

Zwei besonders krasse Fälle aus den vergangene­n Monaten, zwei von vielen. Noch einmal: Die Gesetzesve­rschärfung­en gab es da schon. Hat das alles nichts gebracht?

Josef Sitterer gibt sich diplomatis­ch. „Eine gravierend­e Verbesseru­ng haben wir nicht festgestel­lt“, sagt der Dienststel­lenleiter der AuDas tobahnpoli­zei Gersthofen, die für die A8 zwischen Adelzhause­n und Jettingen-Scheppach zuständig ist. Es werde noch immer gegafft und das Handy noch immer gezückt. Warum? Sitterer denkt lange nach. „Es ist schlimm, aber vielleicht liegt es irgendwie in der Natur des Menschen.“Und doch steht für ihn außer Frage: „Wir verfolgen solche Verstöße rigoros.“Auch den Fall, der bis vor ein paar Tagen auf seinem Schreibtis­ch lag.

Im Frühjahr filmten sowohl der Fahrer als auch der Beifahrer im fließenden Verkehr aus einem Bus heraus einen Unfall auf der A8. Und nicht nur das. Als die Unfallbete­iligten die Busfahrer sehr eindeutig mit Handbewegu­ngen auffordert­en, das Filmen zu unterlasse­n, wurden sie von diesen mit obszönen Gesten beleidigt. Die Polizei hat die Männer mittlerwei­le ausfindig gemacht. Nun haben sie eine Anzeige am Hals, der Fall liegt bei der Staatsanwa­ltschaft.

Hätten sich die Busfahrer anders verhalten, wären die Strafen noch härter? Verkehrsps­ychologin Andrea Häußler vom TÜV Süd sagte kürzlich unserer Redaktion, dass Gaffen etwas Reflexhaft­es sei. „Die Menschen interessie­ren sich, zeigen Neugierde. Irgendwann war das auch einmal wichtig, um zu überleben.“Hinzu komme, dass sich die Menschen an schlimme Bilder, die man täglich im Fernsehen sehe, immer mehr gewöhnten. „Man stumpft ein Stück weit ab. Die Distanz geht verloren.“Und dann gibt es noch ein Phänomen dieser Zeit: Die Empathie geht zunehmend verloren. Die Fähigkeit, sich in denjenigen hineinzuve­rsetzen, der gerade blutüberst­römt am Boden liegt.

Es gibt Psychologe­n, die sagen: Härtere Strafen führen vielleicht bei einzelnen dazu, dass die Schwelle sinkt, ab der die Rationalit­ät einsetzt – das Bewusstsei­n, dass das eigene Verhalten juristisch­e Konsequenz­en haben kann. Dies funktionie­re aber nur langfristi­g über Aufklärung. Denn die Entscheidu­ng zu gaffen, so die Argumentat­ion, sei ja eine spontane Aktion. Trotzdem ist es gut möglich, dass der Gesetzgebe­r noch einmal nachsteuer­t. Im März beschlosse­n die Länder im Bundesrat eine Initiative, wonach Gaffer, die bei Unfällen Videos oder Fotos von Toten machen, bis zu zwei Jahre ins Gefängnis wandern können. „Das ist gut und richtig so“, findet Bayerns Justizmini­ster Bausback. Der Freistaat hat dem Gesetzentw­urf von Niedersach­sen, NordrheinW­estfalen und Mecklenbur­g-Vorpommern zugestimmt. Jetzt ist der Bundestag am Zug.

Feldkirche­n bei München, 21. April. Beim Fotografie­ren eines Großbrands blockieren Gaffer die S-Bahn. Um einen besseren Blick zu haben, hätten sich einige auf die Gleise der nahe gelegenen Haltestell­e gestellt, teilt die Polizei mit.

Schlüsself­eld bei Bamberg, 17. Juni. Auf der A3 gerät ein Auto ins Schleudern und landet im Gebüsch. Verletzt wird niemand. Auf der Gegenfahrb­ahn verursache­n Gaffer einen Stau – und einen Auffahrunf­all.

Die Beispiele hören nicht auf. Im Polizeiprä­sidium Kempten heißt es,

Wie war das noch mal mit der Moral?

Bayern erprobt gerade spezielle Sichtschut­zwände

es gebe keine Statistik darüber, ob die Zahl der Behinderun­gen durch Gaffer zunehme. Aber: „Gefühlt wird es mehr“, sagt ein Sprecher. Mittlerwei­le sind in einem Pilotproje­kt zwei fränkische Autobahnme­istereien mit Sichtschut­zwänden ausgestatt­et worden. Bilanz nach einem Jahr in Gebrauch: „Nach dem Aufbau der Sichtschut­zwände verflüssig­te sich der Verkehr zusehends, weil die Verkehrste­ilnehmer nicht mehr durch Unfälle abgelenkt wurden“, sagt eine Sprecherin des bayerische­n Innenminis­teriums. Auch Feuerwehre­n in der Region haben schon einen ähnlichen Sichtschut­z angeschaff­t. „Das funktionie­rt gut, wir sind dankbar dafür“, sagt Josef Sitterer von der Autobahnpo­lizei Gersthofen. Baden-Württember­g stattet gerade alle seine 15 Autobahnme­istereien mit Sichtschut­zwänden aus. Den Anfang machte vergangene Woche Ulm.

Das Grundprobl­em ist damit nicht gelöst. Noch lange nicht. Es wird weiter Situatione­n geben, in denen der Polizei der Kragen platzt. Als 2016 in Hagen in Westfalen ein Mädchen angefahren wird und unzählige Gaffer die Rettungsar­beiten behindern, filmen und fotografie­ren, poltern die Beamten hinterher auf Facebook: „Hey, ihr Gaffer vom Hauptbahnh­of. Ihr solltet euch was schämen . . .“

 ?? Foto: Christian Kirstges ?? A8 zwischen Günzburg und Burgau, 5. September 2017. Bei diesem Unfall filmt ein Gaffer einen sterbenden Motorradfa­hrer.
Foto: Christian Kirstges A8 zwischen Günzburg und Burgau, 5. September 2017. Bei diesem Unfall filmt ein Gaffer einen sterbenden Motorradfa­hrer.

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