Friedberger Allgemeine

Chemnitz zwischen Trauer und Angst

Am Wochenende drohen neue Auseinande­rsetzungen. Weil die Polizei alle Einsatzkrä­fte braucht, wurde sogar das Spiel zwischen Dynamo Dresden und dem Hamburger SV abgesagt

- VON MICHAEL POHL UND MARTIN FERBER

Berlin/Chemnitz Angesichts der aufgeheizt­en Stimmung war es kein leichter Gang für Franziska Giffey. Als erstes Mitglied der Bundesregi­erung kam die SPD-Familienmi­nisterin nach Chemnitz und sprach von einem „zutiefst emotionale­n Erlebnis“, nachdem sie an jenem Ort Blumen niederlegt­e, an dem ein 35-jähriger Chemnitzer erstochen wurde, mutmaßlich von zwei Flüchtling­en gemeinsam. Die beredte Brandenbur­gerin Giffey suchte sorgsam nach den richtigen Worten, nachdem die Bluttat nicht nur die Bürger der Stadt Chemnitz spaltet: „Wir stehen zusammen dafür, dass Chemnitz und Sachsen mehr sind als brauner Mob“, sagte die 40-Jährige.

Giffey erinnerte daran, wie sie es selbst vor ihrer Bezirksbür­germeister­zeit in Berlin-Neukölln erlebt hat, wie es ist, wenn eine bundesweit­e Skandalsti­mmung über die Menschen hinwegfegt: Damals vor zwölf Jahren wurde die RütliHaupt­schule durch einen öffentlich­en „Brandbrief“von Pädagogen bundesweit­es Symbol einer Problemsch­ule. Danach unternahme­n die Verantwort­lichen alles, um die Schule zu einer Art Vorzeigeei­nrichtung zu machen. Auch jetzt müsse es in Chemnitz zum „RütliSchwu­r“kommen, sagte Giffey und versprach Hilfe, auch wenn dann alle Kameras weg seien und die Situation wieder ruhiger sei: „Wir handeln, gehen hin, hören zu, wir verurteile­n niemanden.“

Doch von einer versöhnlic­hen Krisenbewä­ltigung ist Chemnitz weit entfernt. Dabei ist es sicher auch wenig hilfreich, dass die Staatsanwa­ltschaft zu den Hintergrün­den der Tat weiter schweigt, weshalb die Spekulatio­nen weiter Hochkonjun­ktur haben. Die Polizei hatte von einem Streit zwischen zwei Männergrup­pen berichtet. Es gibt Spekulatio­nen, dass der Messeratta­cke entweder eine Auseinande­rsetzung um Zigaretten oder ein versuchter ECKartenra­ub vorausgega­ngen war.

Anfangs kursierte auch das Gerücht, dass es kurz vor der Tat eine Sexualstra­ftat gegeben hatte, bei der spätere Opfer eingeschri­tten sein soll. „Derzeit spricht nichts für diese Version – und alle anderen Spekulatio­nen kommentier­en wir nicht“, sagt eine Sprecherin der Staatsanwa­ltschaft knapp. Immerhin erklärt die Behörde, dass die mutmaßlich­en Täter – ein 22 Jahre alter Iraker und ein 23-jähriger Syrer – nicht aus Notwehr gehandelt hätten.

Die tödlichen Messerstic­he hatten sich am Sonntagmor­gen gegen 3 Uhr am Rande des Chemnitzer Stadtfeste­s ereignet. Inzwischen wurde bekannt, dass der Iraker bereits 2016 hätte abgeschobe­n werden sollen. All diese ungeklärte­n Vorgänge tragen auch mit dazu bei, dass Chemnitz nicht zur Ruhe kommt.

Das ganze Wochenende über sind verschiede­ne Demonstrat­ionen geplant. Unter dem Motto „Herz statt Hetze“will am Samstagnac­hmittag ein breites Bündnis gegen Fremdenfei­ndlichkeit demonstrie­ren, dazu haben sich auch Bundespoli­tiker wie SPD-Vizechefin Manuela Schwesig, Linken-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch und die Grünen-Vorsitzend­e Annalena Baerbock angekündig­t. Doch auch die rechtsextr­eme Organisati­on Pro Chemnitz kündigte Proteste an. Zugleich riefen die AfD-Landesverb­ände Thüringen, Brandenbur­g und Sachsen gemeinsam mit der Dresdner Pegida zu einem „Schweigema­rsch“in Chemnitz auf. Vorneweg hat auch AfDdas Rechtsauße­n und Thüringer Landeschef Björn Höcke sein Kommen angekündig­t. Damit die Polizei den Großeinsat­z stemmen kann und alle Einsatzkrä­fte verfügbar sind, wurde das Fußball-Zweitligas­piel zwischen Dynamo Dresden und dem Hamburger SV in Dresden abgesagt. Die Spieler des HSV machten sich am Freitagabe­nd im Bus wieder auf die Heimreise. Auch viele Fans waren bereits nach Dresden gekommen. Das Spiel in der Dresdner DDVArena war mit mehr als 30 000 Zuschauern ausverkauf­t.

Unterdesse­n ruft das Verhalten diverser AfD-Politiker angesichts der ausländerf­eindlichen Krawalle immer schärfere Kritik hervor: „Diese Partei entwickelt sich in Richtung Rechtsextr­emismus“, sagte CDU-Vizechef und BadenWürtt­embergs Innenminis­ter Thomas Strobl. Er will sich noch nicht definitiv festlegen, ob die AfD seiner Meinung nach künftig vom Verfassung­sschutz beobachtet werden soll, meinte aber: „Die Beteiligun­g

Soll der Verfassung­sschutz die AfD beobachten?

der AfD an den Vorgängen in Chemnitz schafft neue Fakten. Ich bin ganz sicher, dass diese Fakten in die Lageeinsch­ätzung einfließen.“

Weiter geht der SPD-Innenexper­te Burkhard Lischka: „Ich fordere schon seit längerem, dass der Verfassung­sschutz zumindest Teile der AfD beobachtet, die offen den Schultersc­hluss mit rechtsextr­emistische­n Gruppierun­gen wie der Identitäre­n Bewegung praktizier­en. Wer über Jahre hinweg Teile der Linken beobachtet, darf nicht auf dem rechten Auge wegsehen.“

Auch der Grünen-Fraktionsv­ize Konstantin von Notz sagt: „Man kann der AfD beim Extremisie­ren zugucken.“Reden, Forderunge­n und Bündnispar­tner, „alles rutscht weiter ins völkisch-rechtsextr­eme Umfeld“. Es gebe inzwischen auch Landesämte­r für Verfassung­sschutz, die Argumente für eine Beobachtun­g vortragen, berichtet der Innenexper­te. „Diese Argumente überzeugen mich.“

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Foto: Sebastian Kahnert, dpa SPD Familienmi­nisterin Franziska Giffey gedenkt des ermordeten 35 jährigen Chem nitzers. „Wir handeln, gehen hin, hören zu“, verspricht sie.

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