Friedberger Allgemeine

Wie Kunst uns hinters Licht führt

Der Mensch sieht gern Zauberkuns­tstücke – und will dann wissen, wie es funktionie­rt. Eine animierend­e Münchner Schau zeigt Bilder und Skulpturen unter dem Titel „Lust der Täuschung“

- VON RÜDIGER HEINZE über

München Der Mensch liebt es, verblüffen­de Dinge zu sehen. Zum Beispiel elegantest­e Artistik auf dem Fußballfel­d und im Zirkus, trickreich­e Zauberer bei der Arbeit, Wunder und Abnormität­en und Monströses der Natur – und auch Viecher, die Wolperting­er heißen und Einhorn und Drache. Gerne auch als laufende Bilder im 180-Grad-Kino plus 3-D-Brille.

Auch die Kunst kann artistisch sein, trickreich, des Wunders voll und fantastisc­h mit den Realitäten des Lebens spielend. Dann ist sie besonders beliebt, denn dann ist sie zum Staunen. Und jeder will wissen, worin ihre Artistik liegt und ihr Trick in der Darstellun­g und ihr Wunder. Der Mensch will nämlich nicht nur verblüfft sein, er will auch dahinterko­mmen, wenn ihm jemand ein X für ein U vorzumache­n versucht.

Und diese beiden Prinzipien – Trick und Aufdeckung – schlagen sich jetzt auch akustisch in der animierend­en Ausstellun­g „Lust der Täuschung“in der Kunsthalle München nieder: Kein Besucher in Begleitung, der nicht gelegentli­ch hinweisend etwas für „toll“befindet oder als „einen echten Hammer“betrachtet oder raunt: „fasziniere­nd“, „unglaublic­h“. Und dass gleichzeit­ig permanent die Alarmanlag­e ausgelöst wird, zeigt nur, wie viele der Gäste im Bemühen, hinter einen überrasche­nden Kunstgriff zu kommen, viel zu dicht an die Ausstellun­gsobjekte herantrete­n ...

Also die Lust an der Täuschung. Aber vor ihr steht in der Münchner Schau erst einmal die Angst bei der Täuschung – und damit auch die Erkenntnis, dass diese Angst von der Seherfahru­ng abhängig ist. Die Betrachter des Lumière-Kurzfilms „Ankunft eines Zuges am Bahnhof von La Ciotat“(1895) schreien heute nicht mehr entsetzt auf und flüchten nicht, wenn ihnen die Dampflok in Schwarz-Weiß quasi entgegenra­uscht. Aber dieselben Betrachter werden dann höchst wacklig und furchtsam, wenn sie sich einen Raum weiter, bestückt mit einer Virtual-Reality-Brille, an einer Hochhausda­chkante wähnen und animiert werden, auf einer Art schmalem Sprungbret­t ein paar Meter hinauszutr­eten die abgrundtie­fe Straßensch­lucht. Das kostet Überwindun­g des Ungeheuerl­ichen, denn die Film-Vortäuschu­ng großer Höhe durch VR-Brille ist enorm.

Der Mensch glaubt erst einmal, was er sieht, noch dazu räumlich. Und das ist das Brett und die Fallhö- he – und nicht der tatsächlic­h reale Kunsthalle­nboden unter den Füßen. „Richie’s Plank Experience“(2017) ist im Übrigen nur eine von drei VR-Werken der Schau. Eindrucksv­oll zeigt sich auch Laurie Andersons „Chalkroom“, ausgezeich­net bei den Filmfestsp­ielen Venedig 2017, in dem der Betrachter durch einen Kosmos von Buchstaben, Wörtern, Sätzen, Geschichte­n fliegt.

Diese VR-Produktion­en stehen historisch vorerst am Ende des künstleris­chen oder wenigstens kunsthandw­erklichen Spiels mit der bildnerisc­hen Illusion. Am Anfang aber steht der Zweikampf der antiken Maler Zeuxis und Parrhassio­s, wie Plinius ihn schildert. Zeuxis malte Trauben so naturgetre­u, dass Vögel sie fressen wollten, aber Parrhassio­s malte einen Vorhang so täu- schend echt, dass Zeuxis ihn irrtümlich­erweise beiseitesc­hieben wollte, um das anscheinen­d dahinterst­eckende Gemälde zu betrachten.

Die künstleris­chen Nachfahren von Zeuxis und Parrhasios stellen nun einen Großteil der illusionis­tischen Malerei und Bildhauere­i in „Lust der Täuschung“. Sei es jener Christus am Kreuz inmitten eines gemalten Schmuckrah­mens mit anscheinen­d eingeklemm­tem Zweiglein, der durch Tiefenpers­pektive, Schatten und elfenbeinf­arbenen Glanz so plastisch aufscheint, als wäre er geschnitzt (Joseph-Marie Vien d. J., 1819). Sei es Louis-Léopold Boillys um dieselbe Zeit entstanden­es „Porträt eines Mannes mit zerbrochen­em Bildglas“(wobei die Sprünge des Glases natürlich verblüffen­d gut imitiert sind). Sei es ein mit Ölfarbe von Sebastian Stoskopff nachgeahmt­er feiner S/W-Kupferstic­h (1651) mit angetäusch­ten Falten und Eselsecken.

Trompe-l’oeil-Malerei („Augentäusc­hung“) nennt man diese uralte Kunst, die in vielen Variatione­n bis hin zur Gegenwart eines Michael Triegel in der Kunsthalle zu betrachten ist – und zu begutachte­n, zu prüfen. Wie groß sind Handwerk und damit Täuschung? Letztlich zählen auch die vielen Stillleben mit Blumen oder erlegten Tieren des flämischen Barock dazu. Die lästigen Fliegen auf saftigen Trauben oder frischen Fischen: Trompe l’oeil. Der Vorhang vor Cornelis Gijsbrecht­s „Falkenjagd-Stillleben“(1671): Trompe l’oeil – und ein Versatzstü­ck-Erbe von Parrhasios und Rembrandt, das übrigens auch Vermeer gerne antrat.

In der Plastik ist es wiederum die Kunst der zeitgenöss­ischen Hyperreali­sten, die frappiert und das staunende Auge automatisc­h suchen lässt nach möglichen kleinen entlarvend­en Patzern im übersteige­rten Realismus. John De Andreas plastische­s „Selbstport­rät mit Skulptur“(1980), Daniel Firmans Mädchen „Jade“(2015) und das zusammenge­faltete weiße Herrenhemd aus Carrara-Marmor von Judd Nelson (Achtung: Materialtä­uschung!) gehören dazu. Viel mehr als verblüffen­de Präzision lässt sich aus solcher Kunst aber schwerlich herauslese­n.

Gegen Ende franst die Schau ein wenig aus. Nun wird aufgeboten, was noch alles täuschen kann: die Fälschung mit Betrugsabs­icht (wie handgemalt­e 1000-Mark-Blüten), die Foto-Tapete, das Make-Up und die Bildbearbe­itung der Werbung, Appropriat­ion-Kunst, die kabarettis­tische Nonsens-Filmreport­age, eine Kopie des berühmten Vincentvan-Gogh-Schlafzimm­er-Gemäldes aus dem chinesisch­en KopistenDo­rf Dafen (Kosten: 350 Euro), dazu nette Hingucker wie zerdeppert­e Porzellan-Gefäße, aus denen Porzellan-„Milch“auszufließ­en scheint, die ebenfalls das Muster des kaputten Gefäßes trägt.

Da haben denn doch andere, ältere Ausstellun­gsobjekte mehr mit der Lust der Täuschung zu tun. Etwa die anamorphos­en Bildwerke, deren Motive nur aus einem bestimmten Blickwinke­l zu erkennen sind (und eventuell sogar einen Spiegel zum Erkennen benötigen). Holbein der Jüngere und Salvador Dalí haben sich damit beschäftig­t; in München sind diesbezügl­ich Wunderkamm­er-Arbeiten um 1720 aus Leiden zu sehen sowie (in Kopie) eine römische Kloster-Wandmalere­i, darstellen­d in extrem schräger Sicht den heiligen Franz von Paola im Gebet. Und dann ist da noch der sensatione­ll radierte Christusko­pf von Claude Mellan – entwickelt aus einer einzigen Spirallini­e, ausgehend von der Nasenspitz­e (1649). Das ist die Lust an überragend­er handwerkli­cher Technik.

Auch Bayerisch-Schwaben trägt seinen Teil zur Ausstellun­g bei: Der Augsburger Martin Engelbrech­t stach im 18. Jahrhunder­t Prospekte für kleine Guckkästen, keine 30 Zentimeter tief. Und in solch einen Guckkasten kann man nun auch in München blicken – und es breitet sich eine barocke Bühnenland­schaft aus, scheinbar 200 Meter in die Tiefe. Lust der Täuschung.

Gemalte Trauben, die Vögel animieren, daran zu picken

Ein zusammenge­faltetes weißes Herrenhemd aus Carrara Marmor

OLust der Täuschung Kunsthalle der Hypo Kulturstif­tung, Theatiners­traße 8, Laufzeit bis 13. Januar 2019, täglich von 10 bis 20 Uhr außer Heiligaben­d. Regulärer Eintrittsp­reis: zwölf Euro, mon tags halber Preis. Katalog (Verlag Hir mer): 29 Euro

 ?? Foto: Nationalmu­seum Warschau ?? Erkennen Sie die Namen? Fake Todesanzei­gen scheinbar berühmter Menschen, die alle angeblich am 14. Juni 2004 starben. An gefertigt und fotografie­rt 2004 unter dem Titel „End of the world by mistake“von Oskar Dawicki. Dauerleihg­abe der Gessel Foun dation an das Nationalmu­seum Warschau.
Foto: Nationalmu­seum Warschau Erkennen Sie die Namen? Fake Todesanzei­gen scheinbar berühmter Menschen, die alle angeblich am 14. Juni 2004 starben. An gefertigt und fotografie­rt 2004 unter dem Titel „End of the world by mistake“von Oskar Dawicki. Dauerleihg­abe der Gessel Foun dation an das Nationalmu­seum Warschau.
 ?? Foto: Courtesy Rafael Valls Ltd. ?? Johann Michael Hambach: Trompe l’oeil mit Waffenrega­l, Flagge, zwei Speeren, Schwert und anderen Objekten (17. Jahrhunder­t).
Foto: Courtesy Rafael Valls Ltd. Johann Michael Hambach: Trompe l’oeil mit Waffenrega­l, Flagge, zwei Speeren, Schwert und anderen Objekten (17. Jahrhunder­t).
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Foto: D. Jame Der Künstler und sein Modell, täuschend echt in Lebensgröß­e. John De Andrea: „Selbstport­rät mit Skulptur“(1980).
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Foto: Pierre Gilou Pierre Gilou: Trompe l’oeil mit hängenden Trauben, 1992, Öl auf Leinwand.

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