Der Puls der Zeit
Am Ende einer wieder mal wirren Woche, in der neben gewohnten Erscheinungen wie Löw, Wolf und Sarrazin auch bislang seltenere wie Mob und Anaconda für Schlagzeilen sorgten, wurde das Wichtigste doch übersehen. Nein, nicht dass Angela Merkel in Afrika noch Adressatin eines Ständchens wurde, „Schöne Maid, hast du heut’ für mich Zeit?“, während sie in Teilen der Heimat nur noch Gegenstand von Tiraden ist. Sondern: dass der Zustand der Welt das Ergebnis ist von Online-Umfragen!
Allein in dieser Woche wurde so direkt ermittelt, in welcher Zeitrechnung wir künftig leben sollen oder wer den alternativen Literaturnobelpreis bekommen soll. Indirekt zudem: Wer skrupellos genug ist, eine ins Internet gelangte Angeklageschrift weiter zu verbreiten; und wer sich wie zu Pogrom-Aufrufen gegen Migranten und Journalisten verhält. Diese Umfragen – vielleicht weil nicht von einer Auswertung der EU abhängig – haben ein Ergebnis: Eine alte Prophezeiung erfüllt sich. „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“heißt eine Goya-Radierung, auf der albtraumhafte Wesen einen Ruhenden umschwirren, als wären sie aus dessen Kopf in die Wirklichkeit übergesiedelt. Ebene das passiert durch das Internet. Aus den technischen Fortschrittsträumen des Menschen entstanden, verwandelt es sich auf der Nachseite der Vernunft als Generator albtraumhafter Gegenbilder. Und aus ihrer Sphäre des Fantastischen beginnen sie nach und nach in die Wirklichkeit überzusiedeln, die Welt zu bevölkern und zu prägen. Aber wo fängt das an? Bei Löw oder Wolf oder Mob? Oder bereits bei einer heimtückischen Umfrage, die tagtäglich Zeit online stellt: Wie geht es Ihnen heute? Und als Antwortmöglichkeiten nur: „gut“oder „schlecht“. Über zwei Millionen Menschen haben bereits abgestimmt. Wird hier der Zustand der Welt ermittelt?