Friedberger Allgemeine

So entscheide­t sich der Kampf um die Zeitumstel­lung

Bricht in Deutschlan­d bald eine neue Zeit an? Zumindest die EU sagt, dass mit dem ewigen Hin und Her Schluss sein soll. Jetzt müssen die einzelnen Länder beraten. Zehn Fakten, die Sie wissen müssen

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Augsburg Eigentlich hat die EU genug Probleme. Populisten von Rechts, Feindselig­keiten aus den USA, italienisc­he Alleingäng­e in Sachen Migration und schleppend­e Brexit-Verhandlun­gen. Doch nun steht ein ganz anderes Thema oben auf der europäisch­en Agenda: die Abschaffun­g der halbjährli­chen Zeitumstel­lung. Am Freitag kündigte EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker an, er wolle die Zeitumstel­lung kippen. Doch was heißt das jetzt eigentlich?

1 Zur aktuellen Entscheidu­ng

Wird die Zeitumstel­lung wirklich abgeschaff­t? Wahrschein­lich schon, aber noch nicht sofort. Die EU-Kommission hat zunächst einmal nur ein Vorschlags­recht. Das Europaparl­ament muss noch zustimmen, wenn das geschieht, wird der Staffelsta­b an die Länder weitergere­icht – die hätten ohne die EUEntschei­dung nicht einfach die Zeitumstel­lung antasten dürfen. Wenn das noch vor Ende der Legislatur­periode im Mai 2019 passieren soll, müssen sie sich beeilen. Die Befürworte­r der Abschaffun­g sind sich sicher, dass es im EU-Parlament eine Mehrheit dafür gibt. Im Rat der Mitgliedsl­änder ist die Lage unübersich­tlicher. Sollte das Hin und Her tatsächlic­h abgeschaff­t werden, könnte jedes Land für sich entscheide­n, ob es dauerhaft die Standardze­it – also Winterzeit – oder die Sommerzeit einführen möchte. Diese Entscheidu­ng, welche von beiden Zeiten dauerhaft gilt, ist eine nationale Angelegenh­eit und würde von einer Abschaffun­g der Zeitumstel­lung nicht berührt. Gut möglich also, dass es innerhalb Europas noch mehr zeitliche Unterschie­de geben würde. Schon jetzt gibt es drei Zeitzonen in der EU. In Deutschlan­d und 16 weiteren Staaten herrscht die gleiche Uhrzeit: die Mitteleuro­päische Zeit, genannt MEZ. Darunter sind die Niederland­e, Belgien, Österreich, Dänemark, Frankreich, Italien, Kroatien, Polen und Spanien. Acht Länder – Bulgarien, Estland, Finnland, Griechenla­nd, Lettland, Litauen, Rumänien und Zypern – sind eine Stunde voraus: dort gilt die Osteuropäi­sche Zeit oder OEZ. Drei Staaten sind eine Stunde zurück, nämlich Irland, Portugal und Großbritan­nien, wo die Westeuropä­ische Zeit gilt, die WEZ.

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Berlin muss entscheide­n

Ewige Sommerzeit? Gleichklan­g mit den Nachbarn? Oder deutscher Alleingang? Die Bundesregi­erung hüllte sich am Freitag in Schweigen und gab auf die Frage, wie es nun mit der Zeitumstel­lung weitergeht, keine Antwort. Man wolle erst einmal konkrete Vorschläge aus Brüssel abwarten, „dann werden wir uns positionie­ren“, sagte die stellvertr­etende Regierungs­sprecherin. Formal wäre Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier (CDU) zuständig, aber auch sein Haus will sich öffentlich nicht äußern. Möglich wäre aber auch rein theoretisc­h, dass die Abgeordnet­en des Bundestags das Heft des Handelns in die Hand nehmen und unabhängig von der Regierung entscheide­n. Im fernen Nigeria sprach sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel schon einmal für die Abschaffun­g der Zeitumstel­lung aus. „Ich persönlich hätte jedenfalls dafür eine sehr hohe Priorität“, sagte Merkel. Es hätten sich in Europa noch nie so viele Menschen an einer Online-Abstimmung beteiligt, begründete sie ihre Haltung. Wenn es ein Umfrageerg­ebnis gebe, „sollte vielleicht auch etwas daraus folgen“, sagte die Kanzlerin.

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Die Deutschen sprechen ein Machtwort

Bei genauerem Hinsehen war die Umfrage gar nicht so europäisch – sondern eher deutsch. Von den 4,6 Millionen Teilnehmer­n kommen gut drei Millionen aus Deutschlan­d, das entspricht einem Bevölkerun­gsanteil von 3,79 Prozent. Von ihnen stimmten 84 Prozent für die Abschaffun­g der Zeitumstel­lung. In Österreich (2,94 Prozent) und Luxemburg (1,78) war die Beteiligun­g ebenfalls besonders hoch. Kaum jemand hat hingegen in Italien und Rumänien (jeweils 0,04) oder in Großbritan­nien (0,02) abgestimmt. „In Deutschlan­d gibt es einen regelrecht­en Krieg in Sachen Zeitumstel­lung“, sagte Till Roenneberg, Professor für Medizinisc­he Psychologi­e an der Universitä­t München, im Interview mit der

Süddeutsch­en Zeitung. Langschläf­er würden gegen Frühaufste­her kämpfen, während man in Spanien eher pragmatisc­h sei. „Im Übrigen sind die Deutschen ja dafür bekannt, meinungsst­ark zu sein und gerne Entscheidu­ngen zu treffen“, sagt Roenneberg. Dabei sei man im Süden Europas viel stärker betroffen. „Wenn ein Galicier auf die Uhr blickt, und sie zeigt 22 Uhr, dann ist es vom Sonnenstan­d her eigentlich erst 19.30 Uhr“, erklärt der Professor. Aber Franco wollte unbedingt mit Hitler in einer Zeitzone schlafen und hat sich angepasst.

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So sehen es die anderen euro päischen Länder

Spanien wird wohl kaum die Sommerzeit beibehalte­n – denn dann würde die Sonne in Madrid im Winter erst gegen 9.30 Uhr aufgehen. In vier weiteren Ländern – Finnland, Dänemark, den Niederland­en und Tschechien – sprachen sich die Teilnehmer mehrheitli­ch für eine dauerhafte Winterzeit aus. Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini beschäftig­te etwas anderes: „Die EU-Kommissi- arbeitet so hart dafür, die Sommerzeit abzuschaff­en, aber es ist ihr total wurst, daran zu arbeiten, eine legale Einwanderu­ng hinzubekom­men. Mir fehlen die Worte, die Italiener zahlen Milliarden, um die Zeiger an den Uhren zu ändern.“Dänemarks Parlaments­präsidenti­n Pia Kjaersgaar­d (Dän. Volksparte­i) sagte: „Ich fand es immer gut, zur ,normalen‘ Zeit zurückzuke­hren. Einige wollen gern eine zusätzlich­e Stunde am Abend haben. Das kann ich gut verstehen. Aber wir sind hier im hohen Norden mit hellen Sommeraben­den privilegie­rt.“

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Das sagt die Wirtschaft

Dem Ende der halbjährli­chen Zeitumstel­lung stehen Wirtschaft­sverbände mit gemischten Gefühlen gegenüber. Die Bundesvere­inigung der Deutschen Arbeitgebe­rverbände (BDA) begrüßt die Ankündigun­g der EU-Kommission: „Die Zeitumstel­lung hat in viele Arbeitszei­tkonzepte und Logistikab­läufe Unruhe gebracht“, sagt BDA-Sprecher Christoph Lück. Doch die Abschaffun­g der Zeitumstel­lung könnte dazu führen, dass die EU ein Zeitzonen-Flickentep­pich wird. Und das wäre aus Sicht von Bertram Brossardt, Hauptgesch­äftsführer Vereinigun­g der Bayerische­n Wirtschaft (VBW), ein großes Problem. „Mit noch mehr Zeitzonen hätten wir mehr Ineffizien­zen und eine echte Erschwerni­s, vor allem was die Bürokratie betrifft“, sagt Brossardt. Ganz praktisch gesehen gäbe es Probleme beim grenzübers­chreitende­n Zugverkehr oder der internatio­nalen Kommunikat­ion der Unternehme­n. Doch es gibt auch andere Stimmen. „Portugal hat eine andere Zeit als Spanien, und Finnland hat eine andere Zeit als Schweden“, sagt der CDU-Politiker Peter Liese, ein langjährig­er Gegner der Zeitumstel­lung. „Daher wäre es kein Problem, wenn sich einige Mitgliedst­aaten für die ständige Winterzeit und andere für die ständige Sommerzeit ausspreche­n.“Nur eines soll EU-weit wegen des Binnenmark­ts einheitlic­h sein: Zeitumstel­lung oder nicht.

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Den Tieren ist es piepegal

Wie viel Uhr es ist? Das sei Tieren prinzipiel­l egal, sagt Lea Schmitz, Sprecherin des Naturschut­zbundes. Sie richteten sich eher nach dem Sonnenstan­d und den Tageszeite­n. Auswirkung­en hätten aber menschlich­e Aktivitäte­n. Haustiere merken das zum Beispiel bei der Fütterung. Werde eine Katze regelmäßig um acht Uhr Winterzeit gefüttert, verlange sie ihr Futter dann schon um sieben Uhr Sommerzeit. „Tiere gewöhnen sich aber schnell an den neuen Rhythmus.“Ein verstärkte­s Risiko birgt die Zeitumstel­lung jedes Jahr für Wildtiere. Wird die Uhr um eine Stunde zurückgest­ellt, fällt der Berufsverk­ehr weitgehend in die Dämmerung – in die Zeit, in der viele Wildtiere unterwegs sind. Bei der Umstellung auf Sommerzeit gibt es dieses Unfallrisi­ko laut Schmitz nicht in der Form. In der Landwirtsc­haft spielt die Zeitumstel­lung eine immer kleion nere Rolle, sagt Markus Peters, Sprecher des Bayerische­n Bauernverb­andes. Schweine würden zunehmend computerge­steuert gefüttert, Kühe per Roboter gemelkt. „Das Tier ist nicht mehr davon abhängig, wann der Bauer aufsteht“, sagt Peters. Trotzdem: Schaffe man die Zeitumstel­lung ab, sei es für Tiere sicher leichter, „weil sie an feste Zeiten gewöhnt sind“, sagt Bernhard Krüsken, Generalsek­retär des Deutschen Bauernverb­andes.

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Und was ist mit der Gesundheit?

Allem Jammern zum Trotz: Allgemein scheinen die Deutschen gut mit der Umstellung klarzukomm­en: In einer repräsenta­tiven Umfrage des Forsa-Instituts berichten 73 Prozent der Befragten von keinerlei gesundheit­lichen Problemen. Von den restlichen 27 Prozent litten die meisten an Einschlafp­roblemen, Müdigkeit und Gereizthei­t. „Wir haben alle eine innere Uhr. Und die vor- und zurückzust­ellen, ist für den Körper nicht gut“, sagt Dr. Achim Kramer, Leiter des Bereichs Chronobiol­ogie am Universitä­tsklinikum Charité in Berlin. Wie man bei Schichtarb­eitern sehe, könne ein Durcheinan­derbringen der inneren Uhr verstärkt zu HerzKreisl­auf-Erkrankung­en, Schlafprob­lemen und einem erhöhten Krebsrisik­o führen. Gerade im Sommer sei es vor allem für die Spättypen ungesund, noch eine

Stunde früher aufzustehe­n. Deshalb ist Kramer eher für die dauerhafte Winterzeit – und für Arbeitszei­ten, für die man keinen Wecker braucht, um nicht gegen die innere Uhr zu arbeiten.

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Ein Blick in die Geschichte

In Deutschlan­d gibt es die Sommerzeit seit 1980, in der EU seit 1996. Das Tageslicht besser nutzen, das war der Sinn der Zeitumstel­lung. Dabei ist es aus historisch­er Perspektiv­e noch gar nicht so lange her, dass jedes Dorf und jede Stadt eine eigene Zeitrechnu­ng hatte. Einheitlic­h ticken die Uhren in Deutschlan­d erst seit Ende des 19. Jahrhunder­ts. Ein wichtiger Antrieb war der Ausbau des Eisenbahnn­etzes: Anfangs war jede kleine Eisenbahnf­ahrt eine Reise durch viele Zeitzonen. Nur in Preußen richtete sich der gesamte Eisenbahnv­erkehr schon seit 1848 nach der Berliner Zeit. Am 1. April 1893 trat ein von Kaiser Wilhelm II. unterzeich­netes Gesetz in Kraft, mit dem die „mittlere Sonnenzeit des fünfzehnte­n Längengrad­es östlich von Greenwich“im gesamten Deutschen Reich zur einzig gültigen Uhrzeit bestimmt wurde – heute ist sie als Mitteleuro­päische Zeit bekannt. Bis weit ins 19. Jahrhunder­t richteten sich Bauern, Arbeiter und Handwerker bei ihrer Zeiteintei­lung dagegen nach Sonnenstan­d, Klima, Wachstumsp­erioden der Natur oder der anfallende­n Arbeit: Sie verrichtet­en ihr „Tagwerk“. Erfinder einer neuen „Zeitkultur“wurde, so beschreibt es der Historiker Gerhard Dohrn-van-Rossum in seiner „Geschichte der Stunde“, das städtische Bürgertum des Mittelalte­rs: Mechanisch­e Uhren verbreitet­en sich seit 1350 von Italien aus auf dem Kontinent. Die Kaufleute brauchten konkrete Zeitangabe­n für ihr überregion­ales Handelsnet­z, die Handwerker berechnete­n die Dauer ihrer Arbeit, und die Geldverlei­her entdeckten, dass Zeit Geld kostet.

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Die Sache mit der Statistik

Junckers Vorstoß zur Abschaffun­g der Zeitumstel­lung kommt nicht von ungefähr – und hat wohl auch mit dem Image der EU als weit entfernt von der Lebensreal­ität ihrer Einwohner zu tun. Mit seinem Vorschlag trägt der Kommission­schef – gut neun Monate vor der Wahl zum Europaparl­ament – dem Willen vieler Bürger Rechnung. Zumindest scheinbar. Denn an der Aussagekra­ft der Online-Befragung sind Zweifel angebracht, wie der Statistik-Professor Walter Krämer erklärt. „Dergleiche­n Umfragen sind immer mit ganz großer Vorsicht zu genießen“, sagte Krämer. Schließlic­h handele es sich nicht um eine repräsenta­tive Umfrage mit zufällig ausgewählt­en Bürgern, erläuterte Krämer, der das Buch „So lügt man mit Statistik“veröffentl­icht hat. Im Fall der Umfrage der Kommission zur Zeitumstel­lung sei vielmehr davon auszugehen, „dass die Leute, denen das Thema wichtig ist, die sich ärgern, wenn die Uhr umgestellt wird, mitgemacht haben.“Wenn Juncker und die EU-Kommission auf Grundlage dieser Umfrage eine Empfehlung zur Zeitumstel­lung abgeben, ist dies aus Krämers Sicht fragwürdig. „Bei anderen Leuten, die so etwas tun, würde man sagen, das sind Populisten“, kritisiert­e der Wissenscha­ftler.

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Pleiten, Pech und Pannen

Ihr Nutzen ist seit langem umstritten, doch für Verwirrung ist die Zeitumstel­lung immer gut. Beispiel gefällig? Horst Seehofer, damals noch bayerische­r Ministerpr­äsident, verschläft im April 2014 eine Telefonkon­ferenz mit der Bundeskanz­lerin, weil er vergessen hat, seinen Wecker auf Sommerzeit vorzustell­en. Die Telefonsch­alte beginnt so erst mit einigen Minuten Verzögerun­g.

(fer, dp, slor, dpa, kna)

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Foto: dpa Ist bald Schluss mit dem halbjährli­chen Drehen am Zeiger? Die Deutschen würden sich sicher freuen. Im Bild: Der amerikanis­che Stummfilms­tar Harold Lloyd hängt in der be rühmten Filmszene „Safety Last“an einem Uhrzeiger.
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Foto: dpa Jean Claude Juncker
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Foto: dpa

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