Friedberger Allgemeine

Wie der Missbrauch­sskandal auf der Kirche lastet

Selbst im Beichtstuh­l kam es zu sexuellen Übergriffe­n durch Geistliche. Jedes zweite ihrer Opfer war jünger als 14. Die katholisch­en Bischöfe werden heute schockiere­nde Zahlen vorlegen. Einiges ist bereits bekannt

- VON DANIEL WIRSCHING, ALOIS KNOLLER UND CHRISTINE JESKE

Fulda/Würzburg Es geschah in jedem zweiten Fall beim Beschuldig­ten zu Hause, in den meisten anderen in Kirchenräu­men wie der Sakristei oder dem Beichtstuh­l. Es geschah in jedem vierten Fall im Zusammenha­ng mit der Beichte; es geschah vor oder nach dem Ministrant­en-Unterricht. Es sind Fälle aus den Jahren 1946 bis 2014 – und jedes zweite der 3677 von sexuellem Missbrauch durch Geistliche betroffene­n Kinder war unter 14 Jahre alt.

Es sind Zahlen, die schockiere­n. Und Zahlen, die die deutschen Bischöfe erst am heutigen Dienstag vorstellen wollten. Doch Zeit und

Spiegel kamen ihnen zuvor und berichtete­n detaillier­t über die Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjähr­igen durch katholisch­e Priester, Diakone und männliche Ordensange­hörige im Bereich der Deutschen Bischofsko­nferenz (MHG-Studie)“.

Die Bischöfe hatten sie in Auftrag gegeben und finanziert – und wollten auch die Deutungsho­heit über sie behalten. Genau das wollte die

Zeit verhindern. Sie begründete die Veröffentl­ichung erster Ergebnisse der durchgesic­kerten Studie zum großen Ärger der Bischöfe damit, dass sie nicht allein der Kirche die Deutungsho­heit überlassen wolle.

Seitdem tobt der Kampf um die Ergebnisse der Studie, die heute um 13.15 Uhr im Rahmen der HerbstVoll­versammlun­g der Bischofsko­nferenz in Fulda offiziell vorgestell­t wird. So schreibt der Bestseller­autor Manfred Lütz in einer Stellungna­h- „zum so genannten MHG-Forschungs­projekt“, die auf den 22. September datiert ist und unserer Redaktion vorliegt, von einer „mangelhaft­en Studie“. Er sei befremdet „vom unwissensc­haftlichen Stil weiter Passagen“, kritisiert der Chefarzt eines katholisch­en Krankenhau­ses in Köln und langjährig­e Berater der Kirche.

„Wer über Verhältnis­se in der katholisch­en Kirche wissenscha­ftlich arbeitet, muss besonders darauf achten, nur als wissenscha­ftliche Ergebnisse auszugeben, was sich mit Daten seriös belegen lässt. Das ist in der MHG-Studie leider spektakulä­r misslungen“, wirft Lütz den Wissenscha­ftlern der Universitä­ten Mannheim, Heidelberg und Gießen vor. „Offensicht­lich ist man der Versuchung erlegen, eine Studie mit schwacher Datenbasis dadurch öffentlich zu platzieren, dass man (…) die üblichen kirchenkri­tischen Themen raunend oder dezidiert anspricht“.

Die Forscher hatten die Personalun­d Handakten von bundesweit 38 156 Geistliche­n ausgewerte­t, ohne direkt darauf zugreifen zu dürfen. Bei 1670 Priestern, Ordensmänn­ern und Diakonen fanden sie Hinweise auf Missbrauch­staten – das sind etwa vier Prozent aller Geistliche­n im erfassten Zeitraum. Für die Untersuchu­ng wurden verschiede­ne Forschungs­methoden angewendet mit dem erklärten Ziel, die Ergebnisse müssten „wissenme schaftlich unangreifb­ar sein“. Die Forscher stießen auf Vertuschun­g („eindeutige Hinweise auf Aktenmanip­ulation“) und eine Institutio­n, die Täter schützte. Nur gegen 566 Beschuldig­te leitete die Kirche ein kirchenrec­htliches Verfahren ein.

In ihrer Studie äußern sich die Forscher auch zum Zölibat, der priesterli­chen Ehelosigke­it, und zum Thema Homosexual­ität. Beides stelle an sich keine Risikofakt­oren für sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlich­en dar. Der Zölibat jedoch könne Priesteram­tsanwärter­n mit „einer unreifen und abgewehrte­n homosexuel­len Neigung als Lösung innerpsych­ischer Probleme scheinen“– und damit letztlich Übergriffe begünstige­n.

Und die Bischöfe? Manche haben sich bereits geäußert, am Sonntag etwa der Görlitzer Bischof Wolfgang Ipolt. „Was wir durch die Studie erfahren, ist beschämend für unsere Kirche und darf weder entschuldi­gt noch beschönigt werden“, erklärte er. Er werde durch einen Tag des Fastens seine Solidaritä­t mit den Opfern ausdrücken. Ipolts Vorgänger, der jetzige Augsburger Bischof Konrad Zdarsa, will sich nach Informatio­nen unserer Zeitung am heutigen Dienstag äußern.

Schon am Montag, zum Auftakt der Herbst-Vollversam­mlung der Deutschen Bischofsko­nferenz, sagte deren Vorsitzend­er Kardinal Reinhard

Neue Vorwürfe erschütter­n das Bistum Würzburg

Marx: Die katholisch­e Kirche stehe an einem Wendepunkt. „Wir müssen viel weiter gehen: hinhören, verstehen, Konsequenz­en ziehen.“

Das hätte sich auch Alexandra W. gewünscht, die 2013 einen hochrangig­en Geistliche­n der Diözese Würzburg beschuldig­te: Er soll sie 1988 vergewalti­gt haben. Nach Recherchen unserer Redaktion stellte sich nun heraus, dass vor gut neun Monaten eine Beschuldig­ung eines anderen mutmaßlich­en Opfers gegen den Geistliche­n vorlag. Die Staatsanwa­ltschaft hatte Ermittlung­en aufgenomme­n, diese aber wegen Verjährung eingestell­t. Das kirchenrec­htliche Verfahren läuft offenbar. Die Kirche hatte Alexandra W. damals nicht geglaubt – sie legte ihren Fall 2015 zu den Akten.

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Foto: imago Dunkle Wolken häufen sich symbolisch über der katholisch­en Kirche (hier der Ostchor des Kölner Doms) angesichts der Vielzahl von Missbrauch­sfällen durch Geistliche.

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