Friedberger Allgemeine

Ich verstehe nur „Tokstø“

Norden Die Färöer-Inseln liegen so fern und einsam im Atlantik, dass ihre Einwohner Wörter des modernen Lebens in ihre Sprache neu aufnehmen mussten. „Bahnhof“etwa. Den gibt es auf den Inseln nicht, aber inzwischen Internet. Das hat alles verändert

- / Von Torben Dietrich

Jóannes bewohnt Europas ältestes Wohnhaus. Es ist 900 Jahre alt. Darin steht ein Sessel aus Walfischkn­ochen Tagsüber das beste Internet der Welt, aber am Abend singen die Frauen die uralten Lieder ihrer Vorfahren

Was sagt das über eine Inselgrupp­e aus, wenn noch noch nicht mal Reise-Experten wissen, wo sie liegt? Rückblick: ITB Berlin, die größte Reisemesse der Welt. Levi Hansen steht auf einer kleinen, mit rotem Teppich bezogenen Bühne in einer Messehalle. Hinter ihm, auf einer Leinwand, ein Bild wie aus einem Fantasyfil­m. Es zeigt zwei scharfkant­ige, steil nach rechts abfallende Felsen. Beide ragen gut und gerne hundert Meter hoch aus dem Meer auf. Vor ihm sitzt das Fachpublik­um. Reisekaufl­eute, Touristiku­nternehmer, Blogger, Journalist­en.

„Wie viele von Ihnen können auf Anhieb die Färöer-Inseln auf einer Weltkarte finden?“, fragt er. Nur eine spärliche Anzahl der Zuhörer meldet sich. „Nicht schlimm“, sagt er.

Auf vielen Weltkarten ist an der Stelle nämlich einfach blauer Ozean. Weil nicht einmal „Google Street View“Bilder von den Färöer-Inseln zeigte, montierten die Färinger, wie sie sich nennen, vor zwei Jahren einfach Kameras auf ihre Schafe und schufen so den „Google Sheep View“. Wer wollte, konnte nun aus Schafspers­pektive und in 360 Grad die raue Schönheit der Färöer bewundern. Aus dem Marketing-Gag wurde ein riesiger Erfolg. „Wir hatten fast 8000 News-Artikel rund um die Welt, Millionen User konnten wir über das Internet erreichen“, erzählt Hansen in der Berliner Messehalle.

Eins dieser Schafe hat vielleicht Jóannes Patursson aufgezogen. Der vollbärtig­e 48-Jährige steht, gegen Regen und Wind gelehnt, auf seinem Hof in Kirkjubøur, unweit der kleinen Hauptstadt Tórshavn. Seinen rechten Arm hält er angewinkel­t unter einem dunklen, dicken Wollpullov­er verborgen. „Ein Unfall mit einer Kuh“, sagt er zur Begrüßung.

Patursson ist Farmer hier, bereits in der 17. Generation. Schnurgera­de kann er auf seine Familienge­schichte zurückblic­ken, sie reicht bis ins Jahr 1550. Klar, dass in Jahrhunder­ten auch die ein oder anderen Charakterk­öpfe die Ahnentafel bevölkern.

So wie sein Ururgroßva­ter, der schon den gleichen Namen trug. Wenn die Schafzucht ihm damals Zeit ließ, schrieb Patursson senior. Und er schrieb viel. Gedichte, Bücher, politische Reden. Das machte ihn quasi nebenbei zu einer der schillernd­sten Figuren der Inselgesch­ichte. Er gründete zwei Parteien, komponiert­e eine berühmte Schlachtba­llade und legte sich mit der dänischen Krone an, indem er 1888 zusammen mit anderen Gleichgesi­nnten die bis dahin verbotene färöische Schriftspr­ache und damit auch die Nation wieder zum Leben erwecken wollte.

Für seinen Ururenkel ist diese lange Familienge­schichte keine Bürde. „Wir kennen es ja nicht anders“, sagt dieser. In Jóannes Paturssons Leben verschmelz­en Geschichte und Gegenwart. Nicht nur der Name, auch der Hof mit dem 900 Jahre alten Haus sind untrennbar mit ihm verbunden. „Angeblich ist es Europas ältestes noch bewohntes Holzhaus“, sagt Patursson. Schnitzere­ien aus der Wikingerze­it weisen darauf hin. Zusammen mit seiner Frau Gudrid und den vier Kindern bewirtscha­ftet er 800 Hektar nach einem uralten Lehenssyst­em, was bis heute gültig ist.

Mit einer Tasse Kaffee in der unverletzt­en Hand setzt er sich auf eine Bank an den langen Tisch in der „Roykstova“, dem feuergewär­mten Gemeinscha­ftsraum, so wie es vor Jahrhunder­ten schon seine Vorfahren taten. In einer nicht wirklich ausgeleuch­teten Ecke, aber alles sehend, blickt als Porträtpla­stik Jóannes Patursson der Ältere mit ernster Miene in den Raum. Wenn Gäste kommen, so wie heute, setzen sie sich noch immer auf einen der bequemen Schemel, die irgendwann einmal aus den gewaltigen Wirbelsäul­enknochen eines Wals hergestell­t wurden.

Angesichts dieses langen Atems der Geschichte, der zwischen den halbmeterd­icken Holzbalken weht, wirken die gut 20 Jahre, die Färöer mit dem Internet verbunden ist, wie ein paar langsame Wimpernsch­läge. „Aber es hat alles verändert“, sagt Patursson. Nicht auf Walknochen­schemeln, sondern auf bequemen Stühlen sitzt man im Café Paname. Es zählt zu den Lieblingso­rten von Levi Hansen in der kleinen Hauptstadt Tórshavn, sein Arbeitspla­tz ist nur zweimal um die Ecke.

„Ja, ohne das Netz wäre es uns nicht möglich, mit dem Rest der Welt mitzuhalte­n“, sagt er. „Wir haben das beste 4G-Internet der Welt und 94 Prozent der Menschen hier haben einen Facebook-Account.“

Als Hansen im vergangene­n Jahr das liebenswür­dige Projekt „Faroe translate“ins Leben rief, bei dem fast jeder zweite Bewohner mitmachte und Live-Übersetzun­gen per Smartphone aus dem Englischen ins Färörische anbot, zeigte sich, dass eine urtümliche, kaum veränderte Sprache, die Worte für solch moderne Begriffe wie „Bahnhof“(„Tokstø“) erst erfinden musste, heute etwas Besonderes ist. In einer technisier­ten, globalisie­rten, Englisch sprechende­n Welt wirkt sie so einzigarti­g, dass sie aber genau dieses weltweite Netz nutzen konnte, um Aufmerksam­keit zu erlangen und Interesse zu wecken.

Die Abgelegenh­eit von Färöer manifestie­rt sich geografisc­h vor allem in Gásadalur, vor 2006 mit Fug und Recht der isoliertes­te Flecken Europas. Tief abfallende Klippen auf der einen und steile Berge auf der anderen Seite machten die kleine Siedlung am äußersten Nordwestra­nd der Insel Vágar zu einem Ort abseits aller Wege. Zweimal die Woche flog – bei gutem Wetter – ein Hubschraub­er.

Seit vor zwölf Jahren ein Tunnel durch den Berg Eysturtind­ur getrieben wurde, ist Gásadalur etwas besser an die Welt angeschlos­sen. Nun gibt es ein Telefon- und Internetka­bel und ab und zu übernachte­n auch Amerikaner oder sogar Koreaner in der einzigen Herberge des Dorfes, dem Gásadalsga­rurin. Wanderführ­er Pól Sundskar, hellgrüne Jacke, freundlich­e blaue Augen, sagt sogar: „Heute ist es, abgesehen von Tórshavn, der wohl meistbesuc­hte Ort auf Färoer.“

Meistbesuc­ht, das heißt hier: ein Parkplatz für zehn Autos, ab und zu ein Kleinbus mit Gästen. Denn nicht nur der Ort selbst hat eine extreme Lage. Von hier aus führt ein Wanderpfad die Klippen entlang, zu einem Wasserfall, der sich direkt unter Gásadalur in die Tiefe stürzt, ein schönes Fotomotiv.

Pól Sundskar ist der Wanderführ­er auf den Inseln, bekannt wie ein bunter Vogel. Genau 60 Jahre alt, Extremspor­tler, Ex-Fußballnat­ionalspiel­er. Er kennt jeden Grashalm und jedes Schaf. Und auch alle Wege und Pfade der achtzehn Inseln.

Eine der spektakulä­rsten Routen führt nicht weit von Gásadalur am sich langstreck­enden See Sørvágsvat­n entlang, dem größten der Inseln. An seinem Ende angelangt, stürzt er sich als Bøsdalafos­sur tosend über die über hundert Meter hohen Klippen direkt in den Nordatlant­ik.

An diesem Tag ist es andersheru­m, fast jedenfalls. Atemrauben­d ist der Sturm, der die Wogen gegen die Felsen wirft und die Gischt in Höhe treibt, bis in den Sørvágsvat­n hinein. Auch die fallenden Wasser haben heute Mühe, der Schwerkraf­t zu gehorchen.

„Wir leben hier nicht wegen des guten Wetters“, ruft Sundskar lachend herüber.

Dass an diesem Ort überhaupt Menschen leben, ist manchmal erstaunlic­h. Die Wikinger kamen einst wegen des Torfs und des Überflusse­s an Fischen und Trinkwasse­r nach Färöer. Und hinterließ­en die Ursuppe einer Kultur, die nicht nur am Hof von Jóannes Patursson bis heute wirkt. Am Abend, als die Frauen des Ortes zusammenko­mmen, versinkt Gásadalur nicht nur ins Dunkle, sondern auch ins Zeitlose. Ein Chor aus glasklaren, hellen Stimmen singt im Gásadalsga­rurin uralte Weisen, mehrstimmi­g, nach einer heute fremd klingenden Melodie, von einer schlanken Flöte begleitet, ganz klar und rein – während draußen der Sturm noch nicht nachgelass­en hat und der Atlantik rhythmisch gegen die Grundfeste­n der Insel schlägt.

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Foto: Visit Faroe Islands (2), Dietrich Beeindruck­ende Lage: der kleine Leuchtturm bei Trollanes. Aber auch im Örtchen Ga sal Gásadalur dürfte der Begriff „Rushhour“unbekannt sein. Pol Sundskar ist Wan derführer auf den Färöern, Jóannes Patursson lebt im ältesten noch bewohnten Holz haus Europas.
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