„Die Herausforderung der Migration
Bundeskanzlerin Angela Merkel war zu Gast beim „Augsburger Allgemeine Forum Live“
Frau Merkel, Deutschland bekommt den Zuschlag für die EM. Wird das ein Sommermärchen 2024?
Merkel: Ich freue mich sehr, dass wir den Zuschlag für die Europameisterschaft 2024 erhalten haben. Wir wissen alle noch, wie gut uns die Weltmeisterschaft gelungen ist. Deshalb bin ich ganz sicher, dass Deutschland ein wunderbarer Gastgeber sein wird. Ich drücke die Daumen, dass nicht nur andere gut spielen, sondern auch die deutsche Nationalmannschaft.
Werden dann eher Sie oder Jogi Löw noch im Amt sein?
Merkel: Da sag ich einfach: Schau mer mal…
Spätestens seit der Wahlniederlage Ihres engen Vertrauten Volker Kauder als Fraktionsvorsitzender fragt sich die Republik, wie es Ihnen eigentlich geht.
Merkel: Ich habe mich für Volker Kauder eingesetzt, aber es gab eine Mehrheit für Ralph Brinkhaus. Das ist klassische Demokratie. Wissen Sie, ich habe schon so viele Geschichten über mich gelesen, dass ich an anderen nicht festgehalten oder sie sogar aus ihrer Position gedrängt habe. Diesmal habe ich mich für einen treuen Freund eingesetzt und andere haben gefunden, dass es eines Wechsels bedarf. Deshalb würde ich sagen: Ich arbeite jetzt sehr gut mit Ralph Brinkhaus zusammen. Das ist unser beider Wunsch. Es geht darum, dass wir etwas hinbekommen in der Politik.
In den Schlagzeilen der vergangenen Tage war vom Ende einer Epoche, dem Ende einer Ära, dem Ende einer Kanzlerin die Rede. Wie nah sind Sie dem Ende?
Merkel: Ich sitze hier ganz quicklebendig und gedenke meine Arbeit weiter zu tun.
Warum stellen Sie dann nicht die Vertrauensfrage, wie es andere Kanzler in kniffligen Situationen auch getan haben?
Merkel: Weil es einfach keine knifflige Situation ist. Eine Vertrauensfrage kann man stellen, wenn es um eine schwierige Sachfrage geht, die man mit dem Vertrauen verbindet. Aber ich habe jetzt einen Fraktionsvorsitzenden, der immer wieder gesagt hat, es sei ihm ein Anliegen, dass er mit mir gut zusammenarbeitet. Ich habe mit ihm schon als VizeFraktionsvorsitzenden in Fragen der EuroFinanzpolitik, in Fragen des Bund-LänderFinanzausgleichs auch sehr gut zusammengearbeitet. Ralph Brinkhaus ist ja niemand, der gesagt hätte, dass er mit meinem Stil nicht zufrieden ist. Er hat immer gesagt, dass er eine Fraktion führen möchte, die die Arbeit der Regierung unterstützt.
Im Jahr 1999 schrieben Sie in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die CDU müsse laufen lernen, müsse ohne ihr altes Schlachtross den Kampf mit dem politischen Gegner aufnehmen. Damals ging es um die Emanzipation von Helmut Kohl. Gilt dieser Satz heute für Sie?
Merkel: Das war eine völlig andere Situation. Wir hatten 1998 die Wahl verloren und Helmut Kohl war nicht mehr Bundeskanzler. Die CDU steckte durch die Spendenaffäre in einer schwierigen Situation. In dieser Zeit ging es um die Frage: Was ist die Zukunft der CDU? Heute sind CDU und CSU trotz des schwierigen Wahlergebnisses so stark, dass man gegen uns gar keine Regierung bilden kann. Deshalb: Dieser Satz aus der ist mir noch sehr vertraut, aber er passt nicht auf die heutige Zeit.
Sie werden also auch beim CDUParteitag Ihren Posten als Parteivorsitzende nicht abgeben?
Merkel: Nein. Ich habe gesagt, ich stehe für diese Legislaturperiode zur Verfügung und ich habe meine Meinung, dass Parteivorsitz und Kanzlerschaft zusammengehören, nicht geändert.
Wollen Sie Ihren Kritikern nicht zumindest sagen, dass nach dieser Legislatur endgültig Schluss ist? FAZ
Merkel: Nun ist jetzt noch nicht einmal die Hälfte der Legislaturperiode erreicht. Und wenn Sie überlegen, wann ich in den anderen Legislaturperioden erklärt habe, ob ich noch einmal kandidiere, dann haben wir diesen Zeitpunkt mit Sicherheit nicht erreicht.
Ist das größte Problem der Großen Koalition, die Tatsache, dass weder die SPD noch die CSU so richtig mit Ihnen koalieren wollen?
Merkel: Wir hatten ein sehr schwieriges Wahlergebnis. Zum ersten Mal haben wir eine Partei im Deutschen Bundestag, die ihren politischen Schwerpunkt rechts von der Union verortet, die zum Teil sehr problematische politische Standpunkte vertritt. Eine Partei, von der – wie ich finde – man sich sehr stark abgrenzen muss. Viele haben sich zudem schwergetan, eine Regierung zu bilden. Ich denke, dass auch eine Jamaika-Regierung gut gewesen wäre. Aber leider hatte die FDP dann kein Interesse mehr. Ich achte es sehr hoch, dass die SPD, die eigentlich gesagt hat, sie möchte sich in der Opposition neu positionieren, dann doch staatspolitische Verant- wortung übernommen hat. Seit dieser Bundestagswahl gibt es eine gewisse Nervosität, die hat mit dem Wahlergebnis zu tun. Aber sicher auch mit der Tatsache, dass das Thema Flüchtlinge dieses Land ein Stück weit spaltet. Da sich die Union mit diesem Thema sehr intensiv auseinandersetzt, hat das auch bei uns zu harten Disputen geführt, nach denen wir aber immer wieder zusammengefunden haben. Und wir haben eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet. So kann ich aus der persönlichen Arbeit sagen, dass wir schon eine ganze Menge weggeschafft haben.
In einer Studie sagten 80 Prozent der Deutschen, das Land sei gespalten. Wie erklären Sie das?
Merkel: Die Spaltung begann schon mit der Eurokrise. Die haben wir ganz gut in den Griff bekommen. Dann kam die Frage, was die Herausforderung der Migration für uns bedeutet. Das hat zu einer neuen Spaltung geführt. Das rechtfertigt meiner Meinung nach unterschiedliche politische Positionen, das rechtfertigt aber nicht diese Art von Hass. Gegen den sollten wir uns sowieso insgesamt wehren. Diese völlige Enthemmung in der Sprache ist etwas, das wir nicht tolerieren dürfen in Deutschland. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Ich habe diesen Hass auch im Wahlkampf zu spüren bekommen.
Die Große Koalition wirkt wohl häufig sehr weit weg vom Volk. Im Streit um den Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen fragte ein SPD-Politiker in den sozialen Medien: „Was haben die denn gesoffen?“
Merkel: Das ist wieder so ein Fall. Man kann wirklich dagegen sein und ich bedaure auch sehr, dass ich diese Lösung mitgetragen habe. Und das sage ich wirklich nicht alle Tage. Aber auch da hat man wieder gemerkt, wie sich die Sprache sehr schnell anheizt.
Wäre es nicht ehrlicher, Sie würden eine Minderheitsregierung machen? Dann ginge es wenigstens wieder um Sachthemen und nicht um Personen.
Merkel: Nein, was meinen Sie, was dann los wäre. Es wäre noch viel, viel unruhiger. Wir haben Gesetze angestoßen für den Bereich Pflege, für schnellere Arzttermine, wir haben den Beitrag zur Krankenversicherung gesenkt, wir werden Eckpunkte für ein Fachkräftezuwanderungsgesetz erarbeiten, wir haben das Kindergeld erhöht, wir haben das Baukindergeld eingeführt, wir haben einen Wohnungsgipfel gemacht. Was gelingt, wird nur nicht so stark wahrgenommen. Ein bisschen Streit kommt da offenbar besser an.
Ein bisschen Streit ist gut…
Merkel: Wir sind unterschiedliche Parteien. Selbst CDU und CSU sind nicht immer einer Meinung, selbst innerhalb der CDU sind nicht immer alle einer Meinung. Aber wenn jede Debatte, jedes Ringen um eine Lösung nur noch unter „Zoff“abgebucht wird, dann hilft uns das auch nicht weiter. Wir brauchen Debatten, damit wir hinterher zu Lösungen kommen. Und wir müssen auch den Kompromiss achten. Der Kompromiss ist das Ergebnis demokratischer Debatten.
Sehen Sie es als Teil Ihres politischen Vermächtnisses, dass sich mit der AfD eine Partei rechts von CDU und CSU etablieren konnte?
Merkel: Erstens: Wir sollten alles tun, damit die AfD so klein wie möglich wird. Das heißt für mich: Die Probleme, die die Menschen umtreiben, ernst zu nehmen und zu lösen. Aber auch da müssen wir einen klaren Schlussstrich ziehen, dort, wo Hass ist, wo generelle Verdächtigungen sind, wo Minderheiten ausgegrenzt werden. Da muss man sich absolut abgrenzen. Zweitens: Ich werde immer nach meinem Vermächtnis gefragt. Ich habe aber gar keine Zeit, mich mit meinem Vermächtnis zu befassen. Ich versuche, die Probleme zu lösen. Und ich meine, im Zusammenhang mit den Themen Migration und Flüchtlinge müssen wir die unterschiedlichen Positionen versöhnen. Da lohnt es sich auch nicht, zurückzublicken. Da lohnt es sich nur, nach vorne zu schauen und zu fragen, was wir schon erreicht haben. Und an dieser Stelle darf ich sagen, dass der Freistaat Bayern schon mehr erreicht hat als viele andere Bundesländer.
Sie haben die Union nach links gerückt. Vielleicht wäre die AfD nicht so stark geworden, wenn Sie konservativer geblieben wären.
Merkel: Dem widerspreche ich ganz elementar. Man kann darüber sprechen, wo der Schwerpunkt einer Partei liegt. Die Frage, wie konservativ ich bin, begleitet mich seit dem Tag, an dem ich Parteivorsitzende wurde – das war im Jahr 2000. Vorher hat mir ein ausgesprochen konservatives Mitglied der Bundestagsfraktion aus Baden-Württemberg gesagt: Du musst kandidieren. Da habe ich gesagt: Ich weiß nicht, ob ich konservativ genug bin für euch. Da hat er gesagt: Da mach dir mal keine Sorgen, das sind wir alleine. Du musst dafür sorgen, dass unsere Töchter weiter CDU wählen. Mit dieser Mission bin ich Parteivorsitzende geworden. Die Basis machte sich selbst Sorgen, wie man für jüngere Wähler wieder attraktiv werden könnte. Manchmal wird auch von den Stammwählern gesprochen. Seit ich nach der deutschen Einheit eine Wählerin der CDU wurde, war ich immer Stammwähler. Der Stammwähler kann nicht von mir separiert werden.
»Ich habe sehr, sehr viel von Helmut Kohl gelernt. Und deshalb denke ich auch heute noch daran: Wie hätte er das wohl beurteilt.«
Lange galten Sie als „Kohls Mädchen“. Denken Sie in diesen bewegten Zeiten manchmal, was Helmut Kohl sagen würde?
Merkel: Ja, daran denke ich oft. Helmut Kohl hat mich sozialisiert. Ich bin damals aus der DDR gekommen und hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung, um es mal volkstümlich zu sagen. Ich habe dann Helmut Kohl als den Kanzler erlebt, der sehr viel für die deutsche Einheit getan hat. Da hat man sich alles angeguckt und abgeguckt. Wie reagiert er? Wie lange wartet er? Ich habe sehr, sehr viel