Armer neuer Mann?
„Henning brennt innerlich. ScheißJob, Scheiß-ES, Scheiß-Welt.“Die deutsche Star-Autorin und wie sie sagt: „Eines meiner wichtigsten Bücher“
Unglaublich: Mit „Neujahr“gibt es nun im dritten Jahr hintereinander einen neuen Roman von Juli Zeh. Natürlich: Auch dieser stürmte sofort wieder an die Spitze der Bestsellerlisten. Und typisch: Man muss gar nicht lange rätseln, worum es diesmal der deutschen Star-Autorin geht.
Wieder hat die 44-jährige studierte Juristin und Philosophin also ein Buch konstruiert, um sich mit einer konkreten Frage zu beschäftigen. Aber, wie bereits im Interview mit unserer Zeitung im Sommer angekündigt: Nach dem Gesellschaftsroman „Unterleuten“, ihrem überhaupt meistverkauften Buch, und der engagiert gegen den Rechtsruck geschriebenen Dystopie „Leere Herzen“ist es diesmal kein politischer Roman. „Und trotzdem“, so sagte Juli Zeh, „ist es eines meiner wichtigsten Bücher.“
Die Versuchsanordnung gilt in „Neujahr“nun: dem neuen Mann. Dem, der seinen Kindern gern ein präsenter und liebevoller Vater ist; dem, der mit seiner Frau die Zeit für Familie und Arbeit gleichberechtigt teilt; dem, für den es auch kein Problem ist, wenn seine Partnerin erfolgreicher ist im Beruf und mehr verdient; dem, der so manches anders machen will, als es seine Eltern noch gemacht haben; und dem, der sich von alledem dann doch ganz schön überfordert fühlt.
Henning ist einer dieser neuen Männer, arbeitet in einem Buchverlag, ist verheiratet mit der patenten Theresa, ist Vater zweier Kinder, Sohn Jonas und Tochter Bibi. Und wir lernen ihn kennen, als er gerade – an Neujahr – dabei ist, seinen kleinen Ausbruch aus dem Familienurlaub auf Lanzarote zu zelebrieren – der Insel übrigens, auf der Juli Zeh auch einen zweiten Wohnsitz hat und auf der sie auch schon den Beziehungsroman „Nullzeit“angesiedelt hat. Henning also sitzt auf dem Rad. Eigentlich keinem, das gut genug wäre. Und eigentlich ist er auch nicht fit genug. Aber trotzdem kämpft er auch noch gegen den stärksten Wind und will es auf den höchsten Gipfel der Insel schaffen. Was ihn antreibt, ist nicht unwesentlich die Wut darüber, dass er im alltäglichen Leben doch mit aller Kraft alles richtig zu machen versucht und dass es doch nie genügt, dass ihn immer die Angst zu scheitern plagt und dass ihn diese Angst inzwischen auch schon in plötzlichen Panikanfällen heimsucht. Henning nennt sie „ES“. Und dazu kommen ihm Erinnerungen, wie seine Frau auf die Schwächen reagiert, die sagt: „Sei ein Mann! Einer, den ich lieben kann!“Und er strampelt und kämpft weiter bergan… Keine allzu versteckte Symbolik, die Juli Zeh hier entwickelt.
„Henning beginnt, stumm im Takt der Tritte zu skandieren: Scheiß-Wind, Scheiß-Wind, Scheiß-Wind. Die Wut gibt ihm Kraft. Das Treten scheint ein wenig leichter zu gehen. Es ist eine allgemeine Wut. Nicht nur auf Straße, Wind und Berg. Es ist eine Wut auf alles, eine Wut wie ein Energiefeld, wie Hitze oder Licht. Henning brennt innerlich. Scheiß-Job, Scheiß-ES, Scheiß-Welt.“Und weiter: „Scheiß-Theresa, Scheiß-Theresa, Scheiß-Theresa.“Das gibt Kraft.“Auch noch: „Scheiß-Jonas, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie.“Und dann immer wieder: „ScheißBibbi, Scheiß-Bibbi …“
Doch dieser Kampf prägt nur die erste Hälfte des Buches. In der zweiten lotet Juli Zeh Untiefen aus, die weit in Hennings Vergangenheit liegen, in seinem eigenen Kindsein. Es geht um ein dunkles Geheimnis, das ihn an seine Schwester Luna bindet. Das ist das Konkrete. Gerade hier aber wird das Symbolische fragwürdig. Erzählt Juli Zeh, selbst verheiratet und Mutter zweier Kinder, davon, um die prekären Seiten des heutigen Elternseins in Zusammenhang mit denen früherer Modelle und Ideale zu bringen? Aber wenn es eben kein Gesellschaftsroman ist: Soll diese Gegenüberstellung zeigen, dass Konflikte wie die Hennings gar nicht im neuen Familienbild liegen, sondern in den tiefer wurzelnden Schwierigkeiten der eigenen Identität? Wenn dieser zweite Teil aber so etwas wie eine symbolische Botschaft enthalten soll, dann sicher keine psychologisierende nach dem Motto: Komm mit deiner Vergangenheit ins Reine und die Probleme der Gegenwart werden sich auch verflüchtigen.
Bei nur 192 Seiten wirkt „Neujahr“vielmehr so, als würden sich hier zwei Novellen mit demselben Personal zu einer Betrachtung von zwei Seiten ergänzen. Dieser Henning ist ein Getriebener eines Rollenverständnisses, dem er sich nicht gewachsen fühlt, aber eher sich selbst als das perfekt modellierte Leben als fehlerhaft ansieht. Und er ist Opfer einer verdrängten Traumatisierung, die sein Empfinden prägt und durch reine Erinnerungsarbeit auch nicht aus der Welt zu schaffen ist. Familie ist in beiden Fällen Quelle eines persönlichen Unheils. Und beide Fälle verlangen zu ihrer Bewältigung nach demselben: zunächst der Selbsterkenntnis und dann der Selbstermächtigung über Sein und Schicksal. Ob der arme Henning das hinbekommt?
Es ist jedenfalls viel, was Juli Zeh ihm zumutet, und auch ganz schön viel, was sie mit diesem Buch will. So aufgeladen ihre Symbolik für diese Zwecke ist, so schnörkellos ist ihre Sprache dabei. Und so vereinfacht ihre Charaktere wirken, so maximiert wirken die Dramen. Alles hat Lehrstück-Charakter – typisch. Mit klugem Blick konstruiert – natürlich. Und schon wieder mit großer Verve serviert – unglaublich. Aber mag es auch eines ihr wichtigsten Bücher sein, diese Doppel-Novelle ist keiner ihrer besten Romane.