Sonja flieht ans Meer
Ein Leben für ein Sternelokal. Was bleibt?
Sonja ist 62. Sie verlässt fluchtartig den maroden Lindenhof am Bodensee, nachdem ihr Mann Bruno, Sternekoch, sich dort über drei Jahre im Keller fast totgesoffen hat, bevor er sich schließlich mit Tabletten umbringt. Sonja quartiert sich in einem kleinen Hotel in Wales ein. Küste, raues Meer, Weltabgeschiedenheit. Hier denkt sie über ihr Leben nach. Sie hat nichts mitgenommen aus ihrer früheren, bürgerlichen Existenz. Nur Erinnerungen.
Der Lindenhof, den das Ehepaar 30 Jahre als angesehenes Hotel und Restaurant mit Michelin-Stern geführt hatte, war heruntergewirtschaftet und in der Krise, seit man Bruno den Stern weggenommen hatte. Der Betrieb machte nur noch Arbeit, aber keinen Gewinn mehr. Längst vorbei die goldenen Zeiten, als Kohl und Chirac hier dinierten und die gute Gesellschaft ein und aus ging. Sonja flieht nach Brunos Tod vor dem Ruin – und sie wird von Arno, Brunos Bruder, mehr oder weniger hinausgeworfen aus dem Lindenhof und ihrem alten Dasein. Alle ihre Bewerbungen sind vergeblich – nur ein altes Küstenhotel direkt am Meer in Wales nimmt sie. Dort weht ständig ein wütender Wind. Es ist einsam, nichts ist, wie es ein Leben lang am Bodensee war.
In seinem Roman „Und jeden Morgen das Meer“zeigt Karl-Heinz Ott, der zu den stillen Autoren im Land zählt, wie man auf weniger als 150 Seiten ein Buch schreiben kann, dessen Resonanzraum viel weiter reicht. Sonja beschäftigt sich mit den Fragen, die unser aller Erfahrungshorizont sein können: Was bleibt von einem vermeintlich gelungenen Leben? Gibt es einen Zeitpunkt, an dem man hätte aussteigen sollen – auch aus der Ehe? Und wenn ja: Warum wurde er verpasst? Welchen Sinn hat das betäubende Weitermachen, ein Ehrgeiz, der ins Nichts führt? Keine Freizeit, keine Kinder – war das richtig? Kann es sein, dass jemand 30 Jahre auf dem falschen Dampfer ist und trotzdem nicht von Bord geht? Sonja liebt das Meer (einmal ertrinkt sie fast, nachts geht sie oft raus und stellt sich Wind und Wellenbrechern), sie überlässt sich in Wales ihren Erinnerungen, ihre Gedanken schweifen, aus Bruchstücken formt sich eine Art Lebensbilanz, eine Bestandsaufnahme. Drei Jahrzehnte Arbeit und Aufgabe im Hotel am Bodensee – ein erfülltes und verpasstes Leben zugleich. In der Einsamkeit nach der Dauerbelastung und dem Zusammenbruch bleibt wenig Greifbares. Zweifel, Fragen. Sonja findet keine überzeugende Lebenserzählung – und auch (noch) keine Zukunft. Alles verschwimmt in Wales. Der Rückblick aufs eigene Leben: Kann man sich einem größeren Sturm aussetzen? Für Sonja ist diese Rückschau kein reinigendes Gewitter, auch wenn ihr manches klarer wird.
Sie erinnert sich an die Großmutter, bei der sie in einem Dorf an der Donau (Ott, Jahrgang 1957, stammt aus Ehingen bei Ulm) aufgewachsen ist, an ihre Jugend im strengen Nonnenkloster in Oberschwaben, an die Ausbildung in der Schweiz, an die vielen Nächte, in denen Bruno und sie sprachlos nebeneinanderlagen. „Man war meist ein bisschen müde oder hatte das Gefühl, müde zu sein, oder wollte einfach müde sein.“Brunos Tod, ihr Verzweiflungssex mit Arno danach. Wäre er die bessere Wahl gewesen?
Ott schreibt luftig, souverän, lebensklug, unaufdringlich. Sein Buch atmet, er weitet es mit Naturbetrachtungen. Wie Wellen kommen die Erinnerungen heran aus dem Meer der Vergangenheit, der Autor kreuzt zwischen Wales und Bodensee. Ihm genügen wenige Sätze, um Milieus und Figuren zu zeichnen. „Geht man durch einen Ort mit alten Häusern (…) oder durch Museen, weht einen die Wucht der Vergangenheit an. Das Meer dagegen wirkt nie alt und ist Millionen Mal älter.“