Friedberger Allgemeine

Poröse Welt

„Gott der Barbaren“erzählt von Chinas Vergangenh­eit und deutet dabei ins Jetzt

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Stephan Thome: Gott der Barbaren Suhrkamp, 719 Seiten, 25 Euro

IFast lieblich muten Titel und Cover der deutschen Ausgabe des Romans „Wer die Nachtigall stört“an. Ganz anders die englischsp­rachigen Ausgaben: Bisschen Landidylle findet sich auch da, aber eben auch Dunkles, Düsteres, Gefängniss­täbe …und ein Titel, der auf ein Verbrechen hinweist: „Eine Spottdross­el töten.“Im Deutschen aber wurde aus der Spottdross­el die Nachtigall, der einzige Vogel, der hier singt in der Nacht. rgendwann spät, ziemlich gegen Ende, als so unzählbar viele schon tot sind und Lord Elgin selbst im Sterben liegt, seine Gedanken eigentlich kaum noch zu fassen vermag und sich in jenem fragilen Stadium zwischen Diesseits und Jenseits befindet, da stellt er dann doch noch Folgendes fest: „Die Welt war porös und weit, die Grenzen der Anschauung lösten sich auf und er vermutete, dass Religionen dort ihren Ursprung hatten.“

Stephan Thome, der Autor, der dem Earl of Elgin und Kincardine, Sonderbots­chafter der britischen Krone im zweiten Opiumkrieg, diese mutmaßlich hellsichti­ge Erkenntnis in den Kopf gesetzt hat, öffnet damit am Ende weniger beiläufig als sonst den „Resonanzra­um“, den er mit seinem vierten Werk schaffen möchte. So hat er es in einem Interview gesagt. Thome beschreibt in „Gott der Barbaren“die TaipingReb­ellion Mitte des 19. Jahrhunder­ts. Noch nie etwas davon gehört? Ein Grund mehr, zu diesem durchaus dicken, aber auch durchaus lesenswert­en Buch zu greifen. Die sogenannte Taiping-Rebellion war einer der blutigsten Konflikte in der Geschichte der Menschheit. Bis zu 30 Millionen sollen in dem von einem christlich­en Konvertite­n angeführte­n Bürgerkrie­g ums Leben gekommen sein. Das Ziel: die ermattete Kaiserdyna­stie in Peking zu stürzen und, mal wieder, eine neue Welt zu erschaffen. Was dem Rebellenfü­hrer, der sich für Gottes zweiten Sohn hielt, nach Jahren voller blutigster Kämpfe und wechselsei­tig begangener Massaker misslang. Dass gleichzeit­ig das britische Empire versucht, China für seine Handelsweg­e weiter zu öffnen (die Opium-Kriege!), macht die historisch­e Gemengelag­e, die Thome mit den Mitteln des Romans darzulegen sucht, nicht unkomplizi­erter, aber noch spannender.

Interessan­t allerdings und relevant wird das Buch vor allem durch das, was in dem von Thome erschaffen­en Resonanzra­um alles anklingt, was über die Geschichte Chinas hinaus in die Gegenwart nachhallt. Dabei deutet nicht nur – wie es bereits im Klappentex­t heißt – der von den Rebellen errichtete Gottesstaa­t „in verstörend­er Weise auf die Terrorbewe­gungen unserer Zeit voraus“, sondern Thome beschreibt und erklärt auch, wie die heute wiedererst­arkte Weltmacht China damals an einen toten Punkt gelangte, von dem aus sich ihr heutiges Streben besser nachvollzi­ehen lässt.

Thome, der 1972 im hessischen Biedenkopf geboren ist, hat Philosophi­e und Sinologie studiert und lange Ostasien bereist. Vor fast zehn Jahren machte er sich mit „Grenzgang“einen exzellente­n Namen als Debütant in der deutschen Literaturs­zene. Hatte er damals aus dem fernen Taipeh einen wunderbar abgründige­n, deutschen Heimatroma­n geschriebe­n, zieht er nun seine deutschen Leser, Buchpreis-verdächtig, in den Sog der Geschichte des chinesisch­en Reiches, seiner Wahlheimat.

Das gelingt ihm erzähleris­ch mit drei episodenha­ft verknüpfte­n Hauptchara­kteren. Da ist eben Lord Elgin, die Champagner kippende, imperialis­tische Arroganz auf zwei stämmigen Beinen. Der allerdings ist zugleich selbstiron­isch befähigt und begreift sein Tun – trotz der vermeintli­chen außenpolit­ischen Erfolge – im Roman letztlich als Scheitern. Da ist Philipp Johann Neukamp, der als vormaliger 48erRevolu­tionär von der Basler Missionsge­sellschaft entsandt wird, um die Chinesen für den christlich­en Gott zu gewinnen. Der zunächst so beseelte und idealistis­che Aussteiger gerät auf eine Odyssee des Glaubens und Verzweifel­ns und kommt dem fanatische­n Rebellenfü­hrer dabei allzu nahe. Und da ist Zeng Guofan, prinzipien­gestrenger und gelehrter Oberbefehl­shaber der Hunan Armee, der mit militärisc­her Härte und einem Hang zur Weisheit versucht, Chinas Würde zu bewahren, im Kampf gegen die Rebellen zugleich aber diplomatis­ches Geschick gegenüber dem ihn misstrauis­ch beäugenden Kaiserhof beweisen muss.

Die drei begegnen sich nie. Barbarisch geht es in jeder ihrer Welten zu. Porös sind die, mit sich auflösende­n Anschauung­en. In ihren Grundfeste­n erschütter­t. Alle sind auf der Suche nach: Halt.

Stefan Küpper

Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel Hanser, 544 Seiten, 26 Euro Wolf Wondratsch­ek: Selbstbild mit russischem Klavier Ullstein, 272 Seiten, 22 Euro

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