Lange Schatten
Vom Leben, Lieben und Leiden im Argentinien vor der Militärdiktatur
Geschichte wiederholt sich nicht. Außer vielleicht in Argentinien, da bewegt sich die Zeit scheinbar nur in Spiralen vorwärts: wirtschaftliche Probleme, gesellschaftliche Krisen, Militärs, die nach der Macht greifen – so taumelte das Land am Rio Plata durch weite Teile des 20. Jahrhunderts. Bis die Militärdiktatur von 1976 bis 1983 das Land nicht nur wirtschaftlich ruiniert und gesellschaftlich zerrissen hinterließ, sondern durch ihren völligen moralischen Bankrott den Rückhalt der Bevölkerung für diese Institution des Staates irreparabel beschädigte. Was blieb, ein Blick auf die Schlagzeilen der vergangenen Wochen beweist es, ist die chronische Instabilität des Landes.
Diese sehr spezielle argentinische Mischung zumindest ein bisschen zu kennen, hilft bei der Lektüre von Maria Cecilia Barbettas großem Panorama der kleinen Leute. In drei lose miteinander verbundenen Teilen taucht sie in „Nachtleuchten“ab in den Alltag in Ballester, einem Stadtteil an der Peripherie von Buenos Aires, blickt aus der Vogelperspektive in eine katholische Mädchenschule, eine Autowerkstatt und auf das Leben einer Gruppe von Kindern, die sich ihren Reim machen auf die undurchsichtigen Vorgänge ihrer Umgebung.
Es ist das Jahr 1974, die Zeit nach der von vielen herbeigesehnten Rückkehr von Juan Péron aus dem Madrider Exil. Die sozialen und politischen Spannungen hat der einst von den Militärs weggeputschte Hoffnungsbringer nicht beseitigen können. Als er wenige Monate nach der Wahl stirbt und seine dritte Ehefrau, die ehemalige Nachtklubtänzerin Maria Estela Martínez, genannt Isabel Martínez de Péron, pro forma die Regierungsgeschäfte übernimmt, ist das Abgleiten in die nächste Diktatur schon vorgezeichnet. Die Ratlosigkeit angesichts der politischen Umstände, die sie nicht beeinflussen können, schwebt auch über allen Gesprächen in der Autowerkstatt Autopia. Dazu kommt die Angst vor Polizei und Militär, die plötzlich und anlasslos Menschen verschwinden lassen. Was bleibt, ist der Versuch, ein anständiges Leben zu leben in unanständigen Zeiten.
Barbetta beschreibt diesen immer auf der Kippe stehenden Alltag mit ausladenden, an lateinamerikanische Großschreiber wie Vargas Llosa erinnernden Sprachgirlanden. Leider erliegt die Autorin, die selbst in Ballester aufgewachsen ist, dabei manchmal der Versuchung, die Vergangenheit etwas zu verklären. Der Schrecken bleibt meist unausgesprochen und will anspielungsreich zwischen den Zeilen herausgelesen werden. Angesichts des Terrors und der vielen Toten dieser Zeit ist dies eine der Schwächen dieses ansonsten fesselnden Gesellschaftsromans.
Eine andere ist durch die Anlage des Romans mit seinen drei Handlungszentren kaum zu vermeiden: Man verliert leicht etwas den Überblick, wer mit wem in welchem Verhältnis steht und durch welche schicksalhafte Verwicklung miteinander verbunden ist. Da hätte etwas mehr Handreichung durch die Autorin geholfen, die 1996 nach Berlin kam, dort blieb und seitdem auf Deutsch schreibt. Das mindert aber nur wenig die Freude an dieser Liebeserklärung an die Fähigkeit der Menschen, auch unter widrigen Umständen zu überleben und beinahe naiv an eine bessere Zukunft zu glauben. So wie Barbettas Protagonisten sich festkrallen an ihrem winzigen Stückchen Glück und trotz aller Tiefschläge des Schicksals einfach nicht aufgeben wollen, das mag ein Stück weit argentinisches Lebensgefühl widerspiegeln. Weil es immer ums Ganze geht. Links gegen Rechts, Reich gegen Arm und im Hintergrund zieht ein machtvoller katholischer Klerus die Fäden.
All die Hoffnungen und Konflikte, die so viele Europäer gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Auswanderung nach Argentinien trieben, leben dort fort. Barbetta ist eine große Erzählerin dieses beinahe unüberschaubaren Gespinsts aus historischen und kulturellen Bezügen. Nur ein sprechendes Beispiel: die Namen kleiner Bäckereien wie „La Libertad“oder „La Esperanza“und ihrer Backwaren wie „Mönchseier“oder „Nonenfurze“– Erbe spanischer und italienischer Anarchisten in der Bäckerzunft.