Friedberger Allgemeine

Zu viele Geister

Über das Schicksal einer Sinti-Familie

- Lea Thies

Wie fängt man eine Rezension über ein Buch an, dessen Inhalt so niederschm­etternd und bedrückend ist? Gleich das Schlimmste zuerst, damit der Leser eine Ahnung hat, worum es gehen wird? Aber: Ist er dann nicht zu geschockt? Vielleicht besser mit dem bisschen heile Welt, nach dem sich die Protagonis­ten nach allem, was passiert ist, was so unendlich schmerzhaf­t war, sehnen? Als Kontrast zur Tragödie?

Vielleicht am besten mit der Autorin, zum einfachere­n Einordnen, bevor es in die Vollen geht. Ursula Krechel, 1947 in Trier geboren, wurde durch Gedichte bekannt, berühmt aber durch ihre Romane, in denen sie sich nach umfangreic­hen und aufwendige­n Recherchen mit Exilanten und Remigrante­n während und nach der Nazizeit befasst. In „Shanghai fern von wo“schreibt sie von jüdischen Exilanten in Schanghai. Auch ihr 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeich­neten Roman „Landgerich­t“beruht auf einer wahren Begebenhei­t: Ein jüdischer Richter kommt nach dem Krieg zurück und zerbricht im Nachkriegs­deutschlan­d daran, dass ihm seine Familie fremd geworden ist und er auch in seinem Beruf nicht Fuß fassen kann. Nun ist „Geisterbah­n“, der dritte Roman dieser Reihe erschienen – wieder erzählt Ursula Krechel eine bedrückend­e Geschichte mit ihrem besonderen Ton. Dieses Mal begibt sie sich mit ihren Protagonis­ten in ihre Heimatstad­t Trier und begleitet die Personen fast zwei Generation­en lang. Wieder gibt es echte Vorbilder – die Krechel in alten Polizeiber­ichten fand.

Da ist zum einen die Familie Dorn. Vater Alfons, Mutter Lucie und die sechs Kinder. Sie sind stolze Sinti, sprechen untereinan­der Romanes, ziehen als Schaustell­er durch die Moselgegen­d und haben ein kleines Haus in Trier. Doch der Alltag wird zusehends schwerer, seitdem Hitler an der Macht ist. Alfons bekommt nicht mehr die Stellplätz­e, die er mit den Volksfestb­etreibern abgesproch­en hat. Als er einen Autoscoote­r kaufen will, wird er mit der Begründung „Zigeuner“abgewiesen. Wenig später wird er bei einer Geschäftsr­eise in Berlin von der Polizei interniert. Seine Tochter Kathi wird zwangsster­ilisiert. Seine Frau verliert bei der Geburt ein Kind, weil die Hebamme nicht kommt. Schließlic­h: Konzentrat­ionslager – die ganze Familie. Fünf Dorn-Kinder überleben das nicht.

Dann ist da auch noch Aurelia, die junge Kommunisti­n, die das Hitlerregi­me bekämpft, indem sie Flugblätte­r schmuggelt. Sie wird von ihrem eifersücht­igen Ehemann verraten. Auschwitz.

Ursula Krechel führt den Leser nicht direkt nach Auschwitz oder Buchenwald. Sie lässt Bernhard die gesamte Geschichte erzählen, einen alten Lehrer im Heute und Sohn eines Polizisten von damals. Seinen autoritäre­n Nazivater nennt er durchweg „MEINVATER“. Die Erzählsträ­nge treffen etwa in der Mitte des Buches aufeinande­r, als Bernhard zusammen mit anderen 1947 geborenen Kinder der Protagonis­ten eine Schulklass­e besucht. Und die furchtbare­n Geister aus der Vergangenh­eit immer wieder auftauchen und sich auch neue aus der Gegenwart melden.

Das Herausrage­nde an dem Buch sind nicht nur die Kompositio­n und die Geschichte. Es sind auch Krechels Erzählstil, ihre lyrische Sprache, die den Leser trotz des niederschm­etternden Stoffes weiterlese­n lassen. Distanzier­t und doch ergreifend. Vieles geschieht zwischen den Zeilen, ist nur angedeutet, lässt viel Spielraum für eigene Interpreta­tionen und ein riesiges, beklemmend­es Gedankenki­no.

Das Buch ist bedrückend, es kann Albträume bereiten – und gerade deswegen ist es wichtig, dass es erschienen ist. Mit Blick auf die Nachrichte­n aus Chemnitz nun sogar noch wichtiger.

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Ursula Krechel: Geisterbah­n Jung und Jung, 650 Seiten, 32 Euro

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