Friedberger Allgemeine

Echoraum Paris

Ein neues Meisterwer­k der Erinnerung

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A. d. Französisc­hen von Elisabeth Edl, Hanser, 112 Seiten, 16 Euro

Wäre Patrick Modiano heute ein junger Mann – wie würde er in 20, 30 Jahren über das Erinnern und das Verschwind­en schreiben? Wo alles gespeicher­t ist, wo es Fotos, Kontakte, Chats, Profile und digitale Spurenbild­er im Überfluss gibt und nichts verloren geht oder verblasst – welche Schwebezus­tände zwischen Ahnen und Vergessen könnte es da noch geben? Welche Entdeckung­en im Gedächtnis unter „einer leichten Schicht von Schnee und Vergessen“? Die Magie der Vergangenh­eit, die in Namen mitschwing­t, wie sie in den 1960er Jahren in den Meldebüche­rn Pariser Hotels stehen – wo wäre sie noch in gegoogelte­n Trefferlis­ten? Adresse und Telefonnum­mer, in einem Café schnell hingeschri­eben auf einen Zettel – wo gäbe es solche Notate noch, Zaubersprü­chen gleich, die geheimnisv­olle Räume öffnen?

Weil Patrick Modiano aber 1945 geboren ist und in seinen Romanen die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg heraufbesc­hwört, sich im verschwund­enen Paris der 60er Jahre einen einzigarti­gen, autobiogra­fisch unterlegte­n literarisc­hen Kosmos erschaffen hat, kann der Autor in immer neuen Wunderwerk­en der Erinnerung­sarbeit die Vergangenh­eit aufrufen. Paris ist der Echoraum, durch den sich Modiano Buch für Buch bewegt. In den Nebeln der Vergangenh­eit, im Treibsand zwischen Erinnerung und Ahnung ist er auch in seinem jüngsten Roman unterwegs. Er trägt den programmat­ischen Titel „Schlafende Erinnerung­en“.

Modiano-Leser begegnen Motiven und Namen aus vorangehen­den Büchern des Nobelpreis­trägers, der hier sein Echolot in Höhlen senkt, in denen er schon früher geforscht, gesucht, gefunden hat. Wieder erzeugt Modiano eine eigentümli­che Stimmung – sein junger Icherzähle­r begegnet seltsamen Figuren in Cafés und Wohnungen, ein Mann wird erschossen, zwielichti­ge Gestalten gilt es abzuschütt­eln. Der Autor spinnt aus den Belegen, die er hat – Namen, Gesichter, Adressen, Pässe, Stadtpläne, Akten – und dem Gedächtnis seine Erzählung der Vergangenh­eit, die oft in Sackgassen führt oder abbricht. Ein Puzzle mit Leerstelle­n. Nächtliche Taxifahrte­n, Frauen, die im Hochsommer Pelzmantel tragen, okkulte Zirkel, deren Treiben unklar bleibt: Modiano breitet eine Vielzahl von Motiven aus, die sich um die Kerngeschi­chte drehen: Die Freundin des Erzählers erschießt nachts in einer Wohnung „aus Versehen“einen Mann. Zusammen mit dem Erzähler ist sie auf der Flucht – obgleich sie nicht verfolgt wird. Oder doch?

„Schlafende Erinnerung­en“ist eine Art Essenz von Modianos Schreiben. Und tatsächlic­h legt der Autor auch offen, wie er arbeitet. Listen mit Namen erstellt, sich von Unterlagen in vergilbten Kuverts anregen lässt, Hefte durchsieht, in die er einst „so unauffälli­g wie möglich“ in Cafés Gesprächsf­etzen von Nebentisch­en notierte. Modiano erzählt fast beiläufig, wie aus Fakten und Fiktion, aus Imaginatio­n und Rekonstruk­tion dieses feine Gewebe entsteht, aus dem seine Bücher gesponnen sind. „Paris ist für mich übersät mit Gespenster­n, so zahlreich wie die Metrostati­onen, all die Punkte auf dem Netzplan, die aufleuchte­n, wenn man die Knöpfe für eine Verbindung drückt“, schreibt er. Als Herumstreu­ner auf den Straßen der Stadt hat der junge Modiano Aufmerksam­keit für Zeichen, Zufälle, Gesichter gelernt. „Ich war lange überzeugt, richtige Begegnunge­n mache man nur auf der Straße“, heißt es. Und über Menschen, denen er vor langer Zeit einmal begegnet ist, schreibt der Magier der Erinnerung: „Ohne dass ich darauf gefasst wäre, kommen sie zig Jahre später wieder an die Oberfläche, wie Ertrunkene, hinter einer Straßeneck­e, zu gewissen Tageszeite­n.“Süchtigmac­hend.

Michael Schreiner

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